KONJUNKTURAUSSICHTEN - IM INTERVIEW: DANIEL HARENBERG

"Kurzfristig liegt der Ball wieder bei der Fiskalpolitik"

Der Oxford-Economics-Ökonom zu möglichen Auswegen aus der säkularen Stagnation, den Corona-Hilfspaketen und den Wachstumsaussichten der Eurozone

"Kurzfristig liegt der Ball wieder bei der Fiskalpolitik"

Herr Harenberg, Sie sehen die Wirtschaft des Euroraums in einer milden säkularen Stagnation. Mangelhafte Nachfrage und Investitionen mindern das langfristige Wachstumspotenzial um 0,1 Prozentpunkte jährlich und die Inflation bleibt 0,3 Punkte unter dem EZB-Ziel von knapp 2 %, lautet Ihr Befund. Wie sieht ein möglicher Ausweg aus?Die säkulare Stagnation ist ein langfristiges Phänomen, das sich in außerordentlich hohen Ersparnissen äußert, die zu dauerhaft niedrigen Zinsen und schwacher Gesamtnachfrage führen. Die Ursachen sind primär der Rückgang der Geburtenraten seit den sechziger Jahren, der Anstieg der Lebenserwartung sowie die anhaltende Produktivitätsschwäche. Langfristig kann ein Ausweg nur in einem Paket an strukturellen Reformen bestehen, kurzfristig liegt der Ball aber wieder bei der Fiskalpolitik mit einer deutlichen Erhöhung der Investitions- und Konsumausgaben. In welche Bereiche sollten staatliche Investitionen fließen? Sehen Sie ein Problem bei der Tragfähigkeit der steigenden Staatsschulden?Staatliche Investitionen sollten die schwächelnde Produktivität wiederbeleben, wie zum Beispiel durch den Ausbau öffentlicher Infrastruktur und Bildungseinrichtungen, sowie den Klimaschutz. Bei den niedrigen Zinsen ist das problemlos zu finanzieren, aber natürlich gibt es ein gewisses Risiko von zukünftig steigenden Zinsen. Dem gegenüber steht ein langfristig stärkeres Wirtschaftswachstum, das sich in höheren Einkommen widerspiegelt und somit der säkularen Stagnation direkt entgegenwirkt, wodurch höhere Schuldenniveaus tragfähig werden. Was kann die EZB noch machen?Für die EZB ist die säkulare Stagnation ein Problem, weil die defizitäre Gesamtnachfrage zu langfristig niedriger Inflation führt, was das Erreichen des Preisstabilitätsmandats von 2 % Inflation erschwert. Durch ihr Quantitative Easing (QE), speziell den Ankauf von Staatsanleihen, erleichtert die EZB eine expansive Fiskalpolitik und die damit verbundene Schuldenaufnahme. Ein weiterer Ausbau des QE-Volumens hätte nicht nur einen kurzfristigen stimulierenden Effekt für die Privatwirtschaft, sondern würde auch den notwendigen Ausbau staatlicher Investitionsprogramme unterstützen. Welche weiteren Stellschrauben gibt es?Strukturpolitische Maßnahmen sind essenziell, um den Ersparnisüberhang abzubauen. Eine Erhöhung des Renteneintrittsalters wäre sinnvoll, da sie nicht nur die Nachhaltigkeit unseres Rentensystems verbessert, sondern auch die Konsumnachfrage stärkt und die Ersparnisbildung für den Ruhestand reduziert. Immigrationsfördernde und familienfreundliche Arbeitsmarktregelungen können Konsum und Gesamteinkommen stützen, und der Abbau bürokratischer Hemmnisse für Innovationen und Investitionen ist wichtig für ein dynamischeres Produktivitätswachstum. Was glauben Sie – wie lange dauert es, bis sich die Euro-Wirtschaft erholt und wieder auf einen Wachstumspfad wie vor der Coronakrise einschwenkt?Momentan erwarten wir für den Euroraum, dass das BIP sein Vorkrisenniveau erst Anfang 2022 erreicht, allerdings mit erheblichen Unterschieden bei den Mitgliedstaaten: in Deutschland bereits Ende 2021, in Spanien erst im ersten Halbjahr 2023. Allerdings stellen die aktuell stark steigenden Infektionszahlen ein erhebliches Risiko dar, da weitere Eindämmungsmaßnahmen die Erholung deutlich verzögern können. Nach der Krise wird das Aufholwachstum über 2022 hinaus andauern, aber bleibende Verwerfungen am Arbeitsmarkt, sogenannte Hysteresis-Effekte, sind wahrscheinlich. Mit Blick auf die Corona-Pandemie: Genügen die Anstrengungen der nationalen Regierungen und der EU, um die Wirtschaft zu unterstützen?Die bisherigen Coronahilfen für die Wirtschaft waren weitgehend erfolgreich, doch angesichts einer zweiten Pandemiewelle sehen wir Bedarf an weiteren Maßnahmen. Dabei geht es vor allem um die Verlängerung der Kredithilfen und der Arbeitsmarktprogramme. Doch wenn Teile der Wirtschaft, wie zum Beispiel Dienstleistungen mit direktem Kundenkontakt, wieder eingeschränkt werden sollten, dann wäre auch weiterer fiskalischer Konjunkturstimulus nötig, um einen zweiten Wachstumseinbruch abzufangen. Das Pandemie-Hilfspaket der EU ist dabei ein wichtiger Baustein und sollte zeitnah umgesetzt werden. Sind die Länder, die Gesundheitssysteme, Unternehmen und Dienstleister auf die zweite Infektionswelle besser vorbereitet als zu Jahresbeginn?Ja, wichtige Maßnahmen wie Atemschutzmaske und Abstandsregeln sind weit verbreitet, was insbesondere für Dienstleister mit direktem Kundenkontakt, die in der ersten Welle frühzeitig schließen mussten, wichtig ist. Homeoffice hat sich, wo möglich, etabliert, Produktionsstandorte haben sich angepasst, und die Gesundheitssysteme sind auf mögliche Stresssituationen besser vorbereitet. Doch es macht sich auch eine gewisse gesellschaftliche Pandemie-Müdigkeit bemerkbar, die es zu Jahresbeginn nicht gab. In den einzelnen Euro-Ländern wurden die Arbeitsmärkte mit Programmen ähnlich der deutschen Kurzarbeit gestützt, unterstützt von der EU mit ihrem Sure-Programm. Sollten diese Programme verlängert beziehungsweise ausgeweitet werden? Wie groß werden die Verwerfungen auf den Jobmärkten letztlich sein?Die Kurzarbeitsprogramme haben wesentlich zur Stabilisierung der Wirtschaft beigetragen, da nicht nur Arbeitsplätze erhalten wurden, sondern auch die Kaufkraft gestärkt und die gesamtwirtschaftlichen Erwartungen gestützt wurden. Diese positiven Effekte überwiegen derzeit die Verwerfungen am Arbeitsmarkt, auch wenn die Arbeitslosenrate im Euroraum ihren Vorkrisenstand erst 2025 wieder erreichen wird. Insbesondere mit Blick auf die zweite Coronawelle sollten die Kurzarbeitsprogramme verlängert werden, was in Deutschland und Frankreich bereits geschehen ist. Mit Blick auf Deutschland: Die Sorge vor einer Insolvenzwelle steigt, mit dementsprechend negativen Folgen für den Arbeitsmarkt und später auch erneuter Nachfrageschwäche. Teilen Sie diese Sorge?Die Sorge ist berechtigt und wird auch von uns geteilt, doch die Wahrscheinlichkeit einer großen Insolvenzwelle ist in Deutschland wesentlich geringer als in anderen Staaten des Euroraums. Im Gegensatz zur globalen Finanzkrise 2008 haben Banken viel höhere Eigenkapitalrücklagen, um Kreditausfälle zu verkraften. Darüber hinaus sollten die Kreditstützungsmaßnahmen und das Konjunkturprogramm der Bundesregierung die Gefahr beherrschbar machen, insbesondere wenn beide im Rahmen einer zweiten Pandemiewelle verlängert beziehungsweise erneut aufgesetzt werden. Welche Rolle spielt aktuell die herrschende Unsicherheit für sämtliche Wirtschaftsakteure?Aufgrund der Unsicherheit am Arbeitsmarkt verschieben private Haushalte größere Anschaffungen, was zu einem Anstieg der Sparquote beigetragen hat, die sich nur langsam wieder normalisieren wird. Auf Unternehmensseite führt die unsichere Nachfrageentwicklung zu einem Aufschub von Investitionen. Dadurch verschärfen sich der Ersparnisüberhang und die Nachfrageschwäche, die die Hauptprobleme der säkularen Stagnation der Eurozone sind. Staatliche Konjunktur-, Kredit- und Arbeitsmarkthilfen helfen nicht nur direkt, sondern reduzieren auch die Unsicherheit. Was erwarten Sie mit Blick auf den Brexit und die US-Präsidentenwahl?Beim Brexit halten wir ein Freihandelsabkommen in letzter Minute für etwas wahrscheinlicher als einen No Deal, weil beide Seiten davon profitieren. Allerdings ist der größte Teil des Schadens für die britische Wirtschaft bereits entstanden, so dass ein No Deal keinen großen Wachstumseinbruch nach sich ziehen würde.Mit Joe Biden als US-Präsident könnte das Wirtschaftswachstum in den USA nächstes Jahr bis zu 2 Prozentpunkte höher ausfallen und somit über 5 % betragen, was einen moderaten Wachstumsimpuls für den Euroraum bedeuten würde. Präsident Donald Trumps Pläne hingegen könnten das US-Wachstum auf unter 2 % beschränken. Die Fragen stellte Alexandra Baude.