LEITARTIKEL

Lateinamerikas Leiden

Seit 18 Monaten brennt das argentinische Kartenhaus. Das größte Darlehen in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds konnte das Feuer ebenso wenig löschen wie der massive Zuspruch von Führungsfiguren wie Donald Trump, Emmanuel Macron oder...

Lateinamerikas Leiden

Seit 18 Monaten brennt das argentinische Kartenhaus. Das größte Darlehen in der Geschichte des Internationalen Währungsfonds konnte das Feuer ebenso wenig löschen wie der massive Zuspruch von Führungsfiguren wie Donald Trump, Emmanuel Macron oder Angela Merkel für den Präsidenten Mauricio Macri. Seit dessen vernichtender Niederlage in der Vorwahl am 11. August stehen tragende Wände in Flammen. Und seit Freitagmorgen bestätigten die Ratingagenturen, dass der Zusammenbruch kurz bevorsteht.Macris Dekret, das die Auszahlung kurzfristiger Anleihen an institutionelle Anleger um Monate verschiebt, entspricht nach den Kriterien von Standard & Poor’s einem “selective default”, einem teilweisen Zahlungsausfall. Während nun debattiert wird, ob das den neunten Staatsbankrott in Argentiniens Geschichte darstellt, werden die Anleger versuchen, ihre Konten zu räumen. Sie haben diesen Film schon oft gesehen und kennen die Folgekapitel: Kapitalverkehrskontrollen, Kontensperrungen oder gar eine Hyperinflation. Acht Wochen muss der von seinen internationalen Freunden allein gelassene Präsident noch regieren. Nun fragen sich viele, ob er die kommende Woche übersteht. Dem finanziellen Chaos könnte ein institutionelles folgen.Gewiss: Das argentinische Drama ist hausgemacht und hat seine Ursprünge in chronischen landesspezifischen Defiziten. Daher hätte ein Totalabsturz wohl vorderhand nur geringe Auswirkungen auf die anderen Staaten Lateinamerikas oder gar die Emerging Markets im Ganzen. Allerdings vollzieht sich der Absturz der drittgrößten Volkswirtschaft Lateinamerikas zu einem Zeitpunkt, an dem kein Land des Subkontinents nachhaltig positive Geschichten schreibt. Das gilt nicht nur für Brasilien, dessen liberaler Superminister für Finanzen und Wirtschaft grundlegende Reformen ins Werk setzen will, aber von einem mächtigen Kongress und einem irrlichternden Präsidenten ständig aufgehalten wird. Es schwächeln auch die Musterknaben der vorigen zwei Dekaden: Chile, Peru, Kolumbien. Mexiko konnte im zweiten Quartal nur noch um mickrige 0,1 Prozent wachsen – und sollte nun auch die Nachfrage aus den USA nachlassen, sänke Mexiko ebenso in die Rezession wie viele karibische und mittelamerikanische Volkswirtschaften.Der Zustand der US-Wirtschaft ist eine entscheidende Determinante für Lateinamerika, eine zweite ist die Nachfrage aus China. Seit dem Ausbruch des Handelskonfliktes zwischen den beiden Supermärkten sind die beiden Faktoren miteinander verbunden. Der Zwist der Riesen bewirkt, dass die Rohstoffpreise an der Peripherie ebenso nachlassen wie die Risikobereitschaft internationaler Anleger. So erklärt sich, warum die überraschend deutliche Annahme der brasilianischen Rentenreform nicht jenen Boom auslösen konnte, den die Finanzmärkte noch zu Jahresanfang erwartet hatten.Dazu kommt eine weitere Belastung: der Exodus der Venezolaner. Mehr als vier Millionen Menschen haben bereits Zuflucht in anderen Staaten Lateinamerikas gesucht, vor allem Venezuelas historischer Bruderstaat Kolumbien stemmt – von der Weltöffentlichkeit kaum registriert – eine humanitäre Herkulesaufgabe. Aber die Aufnahmebereitschaft hat Grenzen. Peru und Ecuador erschwerten den Zugang, Chile dürfte nach deutlichem Anstieg der Arbeitslosigkeit Ähnliches erwägen. Venezuela könnte den kriselnden Kontinent bald nachhaltig überfordern.——Von Andreas FinkWenn die industrielle Landwirtschaft die einzige Perspektive bleibt, könnte die Zukunft des Kontinents düsterer ausfallen als die Gegenwart.——