Präsidentschaftswahl

Linksruck weckt Ängste in Chile

Chile gilt als Musterland Lateinamerikas. Mit der Wahl des linksgerichteten Kandidaten Gabriel Boric nehmen die Unsicherheit über den künftigen Kurs und Sorgen vor einem wirtschaftlichen Absturz zu.

Linksruck weckt Ängste in Chile

Von Andreas Fink, Buenos Aires

Die Wahl des linksgerichteten Kandidaten Gabriel Boric zum Präsidenten Chiles hat Ängste vor einem wirtschaftlichen Absturz des lateinamerikanischen Landes ausgelöst. Boric gewann mit mehr als 10 Prozentpunkten vor dem ultrakonservativen Kandidaten José Antonio Kast. Seinen Vorsprung erklären Analysten mit der erhöhten Wahlbeteiligung. Mit dann 36 Jahren wird er bei Amtsantritt im März der jüngste Präsident Chiles sein und der am weitesten links orientierte seit dem Putsch der Pinochet-Militärs gegen den gewählten Marxisten Salvador Allende.

Chile gilt als Musterland Lateinamerikas. Mit Borics Wahlsieg wächst die Unsicherheit über den künftigen Kurs. Sollten Reformen den Wohlstand besser verteilen helfen, könnte das Chiles Mittelklasse dynamisieren und Chancen für Arme generieren. Das wird Boric enormes Verhandlungsgeschick abverlangen. Sein deutlicher Wahlsieg in der Stichwahl überdeckt, dass die Parlamentswahlen im November zwei sehr heterogene Kammern hervorgebracht haben, in denen eher konservative Kräfte dominieren. Boric muss sich die Unterstützung des Mitte-links-Lagers sichern. Er wird zudem Hilfe aus konservativen Reihen brauchen. Und er darf nicht seine extreme Linke gegen sich aufbringen.

Wenn das misslingt, droht eine massive Flucht von in- und ausländischen Investoren. Und womöglich ein wirtschaftlicher Absturz wie jener, der einst dem Sturz Allendes vorausgegangen war.

Boric hat trotz seines Alters viel Erfahrung. Der Spross einer bürgerlichen Familie kroatischer Abstammung aus Punta Arenas, der Hauptstadt der Provinz Magallanes, wurde in Santiago Studentenführer und organisierte Märsche gegen die Hochschulpolitik des Präsidenten Sebastián Piñera. Seit 2014 saß er im Kongress. Im August schlug er in einer Vorwahl des linken Lagers den favorisierten kommunistischen Kandidaten. Die Wahl gewann er mit dem Versprechen, die Gesundheits-, Bildungs- und Rentenpolitik seines Landes zu reformieren – und das mit einer umfassenden Steuerreform zu finanzieren.

Vor dem zweiten Wahlgang versprach er, das Tempo zu drosseln. Nun will er die Steuerbelastung – vor allem für Unternehmen und Reiche – in dieser Legislaturperiode um 5% steigern und die zunächst anvisierte 8-prozentige Zunahme in einer zweiten Amtszeit komplettieren. Aber er besteht darauf, freien und kostenlosen Zugang zu einem öffentlichen Gesundheitssystem zu garantieren, das privatisierte – und für viele Geringverdiener unzureichende – Rentensystem in ein staatliches zu überführen.

Boric will die Banken zwingen, Akademikern alle Schulden aus dem Studium zu erlassen. Dieses System begünstigt allein die Finanzinstitute und die privaten Betreiber der Hochschulen. Aber es hindert weite Teile der Mittelklasse an einer wirtschaftlichen Expansion und schadet zudem dem Konsum. Wenn Boric es schaffen sollte, das gesamte Land – und nicht nur dessen Eliten – am kapitalistischen Wohlstandsprozess zu beteiligen, könnte Chile es tatsächlich schaffen, seinen erklärten Vorbildern Kanada, Australien und Neuseeland nachzueifern. Denn die Welt wird für den klimafreundlichen Umbau ihrer Industrien immer noch enorme Mengen an Kupfer, Lithium und andere Bodenschätze aus Chile brauchen.

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