Luthers finanzökonomische Schriften als Warnung
In der Wirtschaftswissenschaft bedeutet Erkenntnisfortschritt oftmals nichts anderes als die Wiederentdeckung von Einsichten, die älteren Ökonomen bereits bekannt waren, aber zwischenzeitlich durch neue Theorien in den Hintergrund gedrängt wurden. So schreitet ökonomisches Denken oftmals dadurch voran, dass es gelingt, alte Überlegungen auf neue Realitäten anzuwenden und daraus neue Schlussfolgerungen abzuleiten.In diesem Sinne bietet das 500-jährige Jubiläum der Proklamation der “95 Thesen” durch Martin Luther im kommenden Jahr eine gute Gelegenheit zur erneuten Lektüre der ökonomischen Schriften des Wittenberger Reformators, den kein Geringerer als Karl Marx später als “ältesten deutschen Nationalökonomen” bezeichnete. Zinskritik des MittelaltersBetrachtet man Luthers ökonomische Texte, wie beispielsweise “Von Kaufshandlung und Wucher”, mit den Augen des 21. Jahrhunderts, so fällt zunächst die rigorose Zinskritik auf. Hier fühlt man sich spontan in die Wirtschaftswelt des Mittelalters zurückversetzt, als eifernde Kleriker Zinsgeschäfte grundsätzlich verdammten und Wucherer mit Höllenqualen bedrohten. Wer tiefer in Luthers Texte einsteigt, entdeckt jedoch vielfältige Bezüge zu aktuellen Problemen an den Finanzmärkten, die den vielseitigen Geist des Reformators und dessen ernsthaftes Bemühen um ein tieferes Verständnis der von ihm kritisierten Phänomene deutlich machen.Luther wollte die Entwicklungen seiner Zeit verstehen, um den Christenmenschen, die ihn um Rat fragten, Hilfe zur Bewährung des Glaubens im Alltag bieten zu können. Daher ist seine theologische Analyse wirtschaftlicher Probleme zutiefst durchdrungen von einer Hinterfragung der zugrunde liegenden Sachverhalte.Für Luther als Theologen stand fest, dass ökonomischer Erfolg, der in Form von Zinsen oder Gewinnbeteiligungen ausgeschüttet werden kann, ein Segen Gottes ist, der von Menschen weder als garantiert angenommen noch im Voraus verplant werden darf. Gläubiger, die trotz unsicherer Zukunftserwartungen feste Zinsen forderten, verkauften daher in Luthers Augen Gottes Segen, noch bevor dieser gewährt worden war, und versuchten, “Kontingenz in Notwendigkeit” zu verwandeln. Ein solches Ansinnen konnte aus Luthers Sicht nur ins Verderben führen, indem es die gesellschaftliche Ordnung auf den Kopf stellte. Oder in Luthers Worten ausgedrückt: “Deutschland wird mit Fürsten, Herren, Land und Leuten der Wucherer leibeigen werden.” In dieser Befürchtung sah sich der Reformator bestätigt, wenn er miterleben musste, wie große Handelsgesellschaften, beispielsweise die von ihm gehassten Fugger, Einfluss auf politische Entscheidungen gewannen.Eine legitime Form der Kapitalüberlassung konnte daher aus Luthers Sicht nur so aussehen, dass die Gläubiger nicht nur an Gewinnen, sondern auch an Verlusten partizipierten. Luther fasste diese Maxime in sehr prägnante Worte: “Willst Du ein Interesse haben mit zu gewinnen, musst Du auch ein Interesse haben mit zu verlieren!”Die Bereitschaft zur Verantwortungsübernahme für eventuell auftretende Verluste war für den Reformator also die notwendige Kehrseite jeder legitimen Gewinnerzielung. Ausnahmen wollte Luther nur für sogenannte “Notwucherer” zulassen, also für arme Leute (zumeist Witwen oder Waisen), die zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts auf Erträge aus kleinen Kapitalien angewiesen waren. Diese Gläubiger sollten daher seiner Ansicht nach auch im Falle von Zahlungsausfällen bevorzugt behandelt werden, während alle anderen Kapitalgeber im Problemfall zu Forderungsverzichten im Interesse einer Schuldenrestrukturierung bereit sein sollten. Lob der ErwerbsarbeitAußerdem waren Kapitalerträge für Luther nur dann zulässig, wenn sie mit realwirtschaftlichen Investitionen, d.h. nach seinem Verständnis dem Erwerb von landwirtschaftlichem Grund und Boden, in Verbindung standen. So verdammte er sämtliche Geschäfte, die aus seiner Sicht nicht produktiv waren, sondern nur auf eine Aneignung der Leistungen anderer abzielten. Hierin äußerte sich zugleich das neuartige Berufsverständnis, das Luther den Menschen seiner Zeit vermittelte und mit dem er sie zugleich von jenseitsfixierter Frömmigkeit zu weltbejahender Tätigkeit befreite.Für Luther war jede Berufstätigkeit, die – wohlgemerkt aus dem rechten Glauben heraus – auf die Gestaltung der Welt abzielte, zugleich ein Dienst an Gott. Dadurch wurde Erwerbsarbeit zum Werk für den Nächsten, das sich am beiderseitigen Vorteil zu orientieren hatte. Auch wenn Luthers Fixierung auf landwirtschaftliche Transaktionen heute zutiefst anachronistisch erscheint, so ist der dahinterstehende Berufsgedanke gleichwohl von bleibender Aktualität.Auch andere Begrifflichkeiten und Überlegungen Luthers verweisen unmittelbar in die Gegenwart. So ist der von Luther verwendete Begriff der Kontingenz auch aus der heutigen Wirtschaftswelt nicht wegzudenken. Gerade die Krise der vergangenen zehn Jahre hat deutlich gemacht, wie schnell die Verdrängung von Kontingenz durch vermeintlich sichere Kalkulationen katastrophale Folgen zeitigen kann.Krisenfeste Finanzsysteme zeichnen sich daher gerade dadurch aus, dass sie Raum für Kontingenz bieten. Das heißt, Verluste müssen absorbiert werden, ohne dass das Finanzsystem kollabiert oder Staatshilfe erforderlich ist. Hierbei kommt auch das von Luther so vehement verfochtene Prinzip der Eigenverantwortung von Investoren und der Verlustteilung wieder zum Tragen. Dies spricht – wie bereits von Luther unter dem Stichwort “Notwucherer” angedacht – nicht gegen eine Einlagensicherung für Inhaber kleinerer Guthaben, wohl aber gegen einen staatlichen “Vollkasko-Schutz” für sämtliche Investoren.Doch wer sollte für die Vermeidung von Fehlentwicklungen in der Finanzbrache zuständig sein? Luther dachte dabei zunächst an die Obrigkeiten seiner Zeit, von denen er sich Wucherverbote bzw. Wucherreglementierungen erhoffte. Aber er verschloss zugleich seine Augen nicht davor, dass auch staatliche Entscheidungsträger oftmals eher ihre eigenen Interessen als das Gemeinwohl im Auge haben. Daher setzte er zugleich auf die persönliche Verantwortung jedes Christenmenschen, die sich unmittelbar aus der von ihm proklamierten Berufsethik ergab. Ethische NormenZudem hatte Luther eine dritte Gruppe vor Augen: die evangelischen Pastoren, die er in seiner “Vermahnung an die Pfarrherren, wider den Wucher zu predigen” direkt ansprach. In heutiger Terminologie ausgedrückt, wandte sich Luther also an eine zentrale Institution der Zivilgesellschaft, von der er Unterstützung bei der Durchsetzung ethischer Normen im Wirtschaftsleben erwartete.Dieses Konzept einer geteilten Verantwortung für die Finanzbranche erscheint zugleich als zukunftsweisendes Modell für die Bewältigung aktueller ordnungspolitischer Herausforderungen. Dies gilt umso mehr in Anbetracht der Tatsache, dass Produkte und Geschäftsmodelle im Finanzsektor einem besonders schnellen Wandel ausgesetzt sind, der es unmöglich macht, jede Entwicklung unverzüglich ordnungspolitisch zu regulieren.Hinzu kommt, dass eine derartig umfassende Regulatorik kaum im Interesse der Finanzmarktakteure wäre, da sie deren unternehmerische Freiheit stark eingrenzen würde. Daher liegt es im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Beteiligten, ihr Maß an Verantwortung eigenständig wahrzunehmen. Frühe KundenorientierungIn diesem Zusammenhang kommt den Geschäftsmodellen im Finanzsektor eine maßgebliche Bedeutung zu. Eigenverantwortung bedeutet hier, dass ausschließlich Geschäftsstrategien vertretbar sind, die auf eine Wertschöpfung zum Vorteil des Kunden abzielen, die Intransparenz vermeiden und die Risiken offenlegen. Zudem sollten regulatorische Maßnahmen zur Gläubigerhaftung, zur Eigenkapitalausstattung oder zur Bankenabwicklung nicht als zwangsweise auferlegte Belastungen angesehen werden, sondern vielmehr als Befähigung zur eigenverantwortlichen Mitwirkung an der Erhaltung eines funktionsfähigen Finanzsektors.—-*) Dr. Christian Hecker, Bundesbankdirektor, ist Mitarbeiter der Hauptverwaltung der Deutschen Bundesbank in Hamburg, Mecklenburg-Vorpommern und Schleswig-Holstein. Darüber hinaus ist er Mitglied im Deutschen Netzwerk Wirtschaftsethik (DNWE). Der vorliegende Beitrag stellt ausschließlich die persönliche Auffassung des Autors dar und gibt nicht notwendigerweise Positionen der Deutschen Bundesbank wieder. —-Christian Hecker, Bundesbankdirektor in Hamburg