EUROPA HAT DIE WAHL -- EUROPAWAHL 2019

Mehr für den Mittelstand oder mehr für die Champions?

Die künftige Wettbewerbs- und Industriepolitik muss Antworten auf die chinesische Herausforderung finden - Sehr unterschiedliche Strategien der Parteien

Mehr für den Mittelstand oder mehr für die Champions?

Spätestens seit dem Verbot der Zugfusion Siemens/Alstom stehen Reformen in der Wettbewerbs- und Industriepolitik sehr weit oben auf der EU-Agenda. Sogar der Europäische Rat hat sich im März schon mit dem Thema befasst. Das Konzept, stärker auf europäische Champions zu setzen, ist aber umstritten.Von Andreas Heitker, BrüsselDas Scheitern der Stahlfusion von Thyssenkrupp und Tata rückt aktuell erneut die EU-Fusionskontrolle und mögliche Änderungen der Wettbewerbsregeln in den Fokus. Zwar hat die zuständige Brüsseler Behörde in den vergangenen zehn Jahren bei Hunderten von Anmeldungen gerade einmal neun Zusammenschlüsse untersagt (siehe Grafik). Dennoch fordern Befürworter einer aktiven Industriepolitik eine Lockerung der Regeln und mehr politische Zugriffsrechte. Deutschland und Frankreich haben bereits ein gemeinsames Konzept auf den Tisch gelegt, Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) dazu noch eine nationale Industriestrategie als Input. Und sein französischer Kollege Bruno Le Maire möchte gar ein Vetorecht bei Brüsseler Fusionsentscheidungen nach dem Vorbild der deutschen Ministererlaubnis.Längst nicht alle EU-Länder befürworten eine solche Strategie, bei der es auch um eine aktive Förderung von europäischen Champions gehen soll, die sich auf dem Weltmarkt vor allem gegen die immer stärker auftretende chinesische Konkurrenz behaupten können. Aber klar ist, dass die Wettbewerbs- und Industriepolitik in der nach der Europawahl beginnenden neuen Legislaturperiode ein deutlich stärkeres Gewicht erhalten wird als bisher. Die europäischen Staats- und Regierungschefs haben auf ihrem März-Gipfel bereits die EU-Kommission aufgefordert, bis Jahresende eine “langfristige Vision für die industrielle Zukunft der EU” vorzulegen sowie Vorschläge für eine Reform des Wettbewerbsrahmens. Im Fokus dabei: die Digitalisierung und die Konkurrenz aus Fernost.Der hausinterne Thinktank der Europäischen Kommission EPSC zeigte sich zwar äußerst skeptisch, was eine mögliche Lockerung des EU-Wettbewerbsrechts angeht. In einem Bericht wurde vor einer “wirtschaftlichen Abwärtsspirale” und vor “politischer Willkür” gewarnt. Allerdings fordert auch die Wirtschaft vehement mehr Schutz und ein besseres Wettbewerbsumfeld. Große Konzerne können zur Begründung auch auf ihre hohe Wertschöpfung verweisen (siehe Grafik). Die Wirtschaft drängeltDer Industrie-Dachverband BusinessEurope verwies jüngst darauf, dass der Anteil Europas unter den weltweit profitabelsten Konzernen deutlich gesunken sei und die EU seit 2010 gerade einmal 29 Einhörner (Unicorns) hervorgebracht hat – also Start-ups, die es auf eine Marktbewertung von mehr als 1 Mrd. Dollar gebracht haben. In den USA waren es in gleicher Zeit 139, in China 81. “Wir brauchen ein neues politisches Engagement, um unseren Kontinent zum besten Ort für die Gründung und das Wachstum eines Unternehmens zu machen.”In eine ähnliche Kerbe schlägt auch der Bundesverband der deutschen Industrie (BDI), der fordert, das europäische Wettbewerbsrecht stärker für Kooperationen zwischen Konkurrenten zu öffnen. “Der Ordnungsrahmen, in dem die Unternehmen die Zulässigkeit einer Kooperation prüfen müssen, muss angepasst werden.” Missbrauchsaufsicht und Fusionskontrolle sollten zugleich nicht weiter verschärft, sondern die Verfahren beschleunigt werden.Die deutschen Parteien haben hierzu in ihren Europawahlprogrammen recht unterschiedliche Vorstellungen. CDU/CSU unterstützen die Forderung nach mehr europäischen Champions. In Schlüsselbereichen müsse das Entstehen von europäischen Weltmarktführern auch durch bessere Kooperation der Unternehmen untereinander ermöglicht werden, heißt es im Programm ganz klar. Die Unternehmen müssten auf dem Weltmarkt bestehen können. Genannt werden auch vier dieser “Schlüsselbereiche”, die einer besonderen Förderung bedürfen: So soll Europa zu einem führenden Standort für künstliche Intelligenz (KI) gemacht werden, eine eigene Kompetenz bei der Batteriezellenfertigung entwickeln, über ein Flaggschiffprogramm Quantentechnologie leistungsfähigere Computer und Datenkommunikation erhalten und auch in der Luft- und Raumfahrt besser kooperieren.Auch die SPD unterstützt eine “aktive, strategische und nachhaltige Industriepolitik” in Europa und fordert mehr gemeinsame industriepolitische Modellprojekte nach dem Vorbild von Airbus. Als Beispiele hierfür nennen die Sozialdemokraten ebenfalls die Schaffung einer europäischen Batteriezellfertigung und zudem eine Kooperation im Bereich der Wasserstofftechnologie. Für die SPD bedeutet aktive Industriepolitik zudem: gezielte Entwicklung der Industrie in wirtschaftlich schwachen Gebieten in der EU nach dem Vorbild des Marshall-Plans, insbesondere in Ost- und Südosteuropa.Die Grünen haben in ihrem Programm die Gründung eines eigenständigen europäischen Kartellamtes integriert, dass auch als EU-Digitalaufsicht fungieren soll. Die genaue Abgrenzung zur heutigen Wettbewerbsbehörde bleibt da aber unklar. Das Wettbewerbsrecht sollte bei außereuropäischen Fusionen außerdem die Auswirkungen auf den globalen Markt ins Auge fassen und sich nicht nur auf den EU-Markt beschränken. Die Partei will zudem, dass Unternehmen auch unabhängig von einem nachgewiesenen Missbrauch aufgespalten werden können, wenn ihre Marktmacht zu groß wird. Kleinere Parteien strengerDie FDP plädiert eher für ein strengeres Wettbewerbsrecht und verweist dabei weniger auf die Bedürfnisse der Großkonzerne als vielmehr auf die des Mittelstands. Künftig sollten auch Zusammenschlüsse von Unternehmen, die die Umsatzschwellen noch nicht erreichen, unter die Kartellaufsicht fallen, wenn eine besondere Gefahr für den Wettbewerb besteht.Die AfD sieht den Zweck der EU primär darin, “den Rahmen gemeinschaftlichen, europäischen Wirtschaftens zu gestalten und für faire Wettbewerbsbedingungen zu sorgen”, hat außer “Bürokratieabbau” aber kaum konkrete Vorschläge zu machen. Die Linken wollen im Zuge einer “koordinierten europäischen Industriestrategie” vor allem kleine Unternehmen und strukturschwache Regionen besser fördern. Zuletzt erschienen: Die künftige EU-Handelspolitik und Porträt Meuthen, 10.5. Der Blick auf die Wahl in den großen EU-Mitgliedstaaten, 7.5. Die künftige Bankenregulierung und Porträts Barley/Bullmann, 3.5.