GASTBEITRAG

Mehr Respekt für das Bundesverfassungsgericht

Börsen-Zeitung, 23.6.2020 Das Bundesverfassungsgericht hat das Programm des Europäischen Systems der Zentralbanken zum Ankauf von Staatsschulden wegen Kompetenzüberschreitung beanstandet und das Unterlassen deutscher Verfassungsorgane, geeignete...

Mehr Respekt für das Bundesverfassungsgericht

Das Bundesverfassungsgericht hat das Programm des Europäischen Systems der Zentralbanken zum Ankauf von Staatsschulden wegen Kompetenzüberschreitung beanstandet und das Unterlassen deutscher Verfassungsorgane, geeignete Maßnahmen dagegen zu ergreifen, teilweise für verfassungswidrig erklärt. Auf die Entscheidung haben zahlreiche Vertreter von Politik, Medien und Staatsrechtslehre regelrecht empört reagiert. Die Kritik hat dabei in Form und Wortwahl Maß und Mitte weitgehend verloren. Miss-VerständnisDieser Vorgang ist bisheriger Kulminationspunkt einer Entwicklung, in welcher der gebotene Respekt im öffentlichen und medialen Umgang miteinander zunehmend verfällt. Er ist zugleich Indiz einer Erosion des Rechtstreuebewusstseins gegenüber den Normen der Verfassung. Das bereitet große Sorge im Hinblick auf Existenz und Funktionsfähigkeit des freiheitlichen, gewaltengeteilten Staates, der mit dem Grundgesetz geschaffen worden ist. Er zeigt zudem ein problematisches Verständnis von den Aufgaben und Pflichten eines Verfassungsgerichts und seiner Mitglieder.Man kann eine Entscheidung des Gerichts für juristisch falsch, politisch schädlich oder ökonomisch schlecht begründet halten. Das ist aber weder Grund noch Rechtfertigung für herabwürdigende Angriffe. Das Bundesverfassungsgericht ist ein Verfassungsorgan. Es verdient Respekt, auch wenn es aus der Sicht zahlreicher Kritiker verfehlt entschieden hat. Es ist als Hüter der Verfassung eingesetzt worden und rechtlich verpflichtet, alle Akte der Staatsgewalt auf ihre Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und Verfassungsverstöße zu rügen, wenn das beantragt worden ist. Kompetenzen achtenIn seinem Urteil mahnt das höchste deutsche Gericht – wie schon in einer Reihe von früheren Entscheidungen – die Einhaltung der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und den EU-Mitgliedstaaten an. Es sieht in dem Ankaufprogramm eine faktische Ausweitung der Zuständigkeit der Währungsunion ohne die dafür zwingend vorgesehene Durchführung eines Vertragsänderungsverfahrens. Diese Auffassung mag man für falsch halten. Eine effektive Kontrolle der Einhaltung der Kompetenzordnung ist in einem gegliederten Gemeinwesen, wie es die Europäische Union ist, aber unerlässlich. Im Ergebnis hatte es der Gerichtshof der Union abgelehnt, die Einhaltung der Kompetenz bei Schaffung und Durchführung des Programms im Einzelnen zu überprüfen, und dem Europäischen System der Zentralbanken erlaubt, in erheblichem Umfang selbst zu bestimmen, wo die Grenzen seiner Zuständigkeit verlaufen.Die Rolle der Judikative im gewaltengeteilten Rechtsstaat ist besonders prekär, da diese Staatsgewalt über keine eigenen Machtmittel verfügt und auf Anerkennung und Respekt durch die anderen Gewalten existenziell angewiesen ist. Rechtstreuebewusstsein muss gepflegt werden. Nicht zuletzt sind die Verfassungsorgane zu wechselseitiger Zusammenarbeit und Schutz verpflichtet. Im Sinne der Verfassungsorgantreue ist es unerlässlich, dass sich die anderen Verfassungsorgane schützend vor das Bundesverfassungsgericht stellen.Aber auch die Bürger sind gefordert. Angesichts der Gefahren für die Verfassungsgerichtsbarkeit darf zu den Angriffen auf ein wesentliches Verfassungsorgan nicht geschwiegen werden. Helmut Siekmann, Institute for Monetary and Financial Stability (IMFS)