LEITARTIKEL

Migranten statt Immigranten

Welche Nation treibt derzeit die Globalisierung am meisten voran? Bei der Antwort auf diese Frage kommt man an Japan nicht vorbei. Ausgerechnet Japan, das in den achtziger Jahren wie kein anderes Land den Protektionismus verkörperte, ist aktuell der...

Migranten statt Immigranten

Welche Nation treibt derzeit die Globalisierung am meisten voran? Bei der Antwort auf diese Frage kommt man an Japan nicht vorbei. Ausgerechnet Japan, das in den achtziger Jahren wie kein anderes Land den Protektionismus verkörperte, ist aktuell der größte Motor des globalen Freihandels. Die Regierung von Shinzo Abe rettete den Handelsvertrag der Pazifikanrainerstaaten – die Trans-Pacific Partnership – nach dem Ausstieg der USA vor dem Aus. Wenig später unterzeichnete Japan ein Handelsabkommen mit der EU. Eine Kehrtwende in Richtung Globalisierung vollzieht Japan nun auch bei der Zuwanderung. Bisher setzte Premier Abe darauf, mehr Frauen und Senioren als Erwerbstätige zu gewinnen, um das massenhafte Ausscheiden der Babyboomer-Generationen aus dem Arbeitsleben auszugleichen. Das hat lange Zeit gut funktioniert. Aber inzwischen sind diese beiden Reservoire fast ausgeschöpft. Daher bleibt Japan nun keine andere Wahl, als verstärkt auf Ausländer zu setzen, um seine Wirtschaftskraft zu erhalten. Bisher durften Ausländer nur über ein Weiterbildungsprogramm in bestimmten Branchen nach Japan kommen, oder sie reisten als Studenten ein, die legal arbeiten dürfen. Allein durch diese Kanäle hat sich die Zahl der ausländischen Arbeiter in Japan während der vergangenen fünf Jahre auf knapp 1,3 Millionen verdoppelt. Dennoch kamen auf 100 Jobsuchende zuletzt 162 Stellenangebote. Am größten ist die Nachfrage im Bau-, Service-, IT- und Pflegebereich. Daher werden die Tore für Zuwanderer nun weit geöffnet. Bereits seit dem Vorjahr erhalten ausländische Fachkräfte, etwa im IT-Bereich, schon nach ein bis drei Jahren statt nach bisher zehn Jahren eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung. Beim E-Commerce-Riesen Rakuten zum Beispiel ist jeder vierte der 6 000 Beschäftigten in Tokio kein Japaner. Auch Toyota setzt bei einem neuen Zentrum für autonomes Fahren auf Ausländer – die offizielle Arbeitssprache ist Englisch. Nun werden die Anforderungen an Ausbildung und Sprachfähigkeit gesenkt. In bilateralen Abkommen mit Vietnam, Indonesien, Kambodscha und Laos will die Regierung gezielt Alten- und Krankenpfleger anwerben, um die rasch wachsende Zahl von bettlägerigen und demenzkranken Senioren zu versorgen. Der Spracherwerb wird erstmals bezuschusst. Außerdem will man auch ungelernte Arbeitskräfte ins Land lassen und sie in fast allen Feldern einschließlich Produktion einsetzen.Trotz dieser Initiativen bleibt das Thema ausländische Arbeitskräfte ein politisches Tabu. Abe will den Firmen genug Arbeitskräfte beschaffen, aber ignoriert dabei absichtlich die Frage, ob Japan seine schrumpfende Bevölkerung durch Zuwanderung ausgleichen sollte. Lieber betont er, dass die Ausländer nur temporär bleiben. So werden die meisten Arbeitsvisa auf fünf Jahre begrenzt. Außerdem dürfen die Gastarbeiter keinen einzigen Angehörigen mitbringen.Die Strategie von “Migranten statt Immigranten” zielt darauf, populistischen Argumenten gegen Ausländer von vornherein das Wasser abzugraben. Bisher sind der Bevölkerung die Widersprüche in Abes Argumentation jedenfalls nicht sauer aufgestoßen. Man stöhnt eher über die überfüllten Busse und Hotels durch chinesische Touristen in der alten Kaiserstadt Kyoto als über die Japanisch radebrechenden Indonesier und Nepalesen an den Kassen vieler Minisupermärkte. Aber mittelfristig muss sich Japans Regierung der harten Wirklichkeit stellen. “Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen”, schrieb Max Frisch schon 1965 über den Zuzug von Gastarbeitern nach Westeuropa. In der Hauptstadt Tokio ist bereits jeder achte Bewohner, der in diesem Jahr volljährig wird, ein Ausländer. Wohnviertel mit Indern und Chinesen bilden sich. Es ergibt auch ökonomisch wenig Sinn, diese Menschen nach einigen Jahren wieder in ihre Heimat zurückzuschicken, obwohl sie dann gut Japanisch sprechen und sich in der Gesellschaft eingelebt haben.Doch die Abe-Regierung setzt offenbar auf Fortschritte bei Robotern und künstlicher Intelligenz und investiert hohe Fördermittel in die Verwirklichung einer “Gesellschaft 5.0”. Mittelfristig sollen japanische Roboter ausländische Arbeiter überflüssig machen. Aber auch dies dürfte Wunschdenken bleiben. Ein Roboter kann zum Beispiel bei der Pflege von bettlägerigen Alten helfen, aber einen menschlichen Pfleger können Maschinen nach Ansicht von Experten wohl noch sehr lange nicht ersetzen. —–Von Martin FritzJapans Regierung öffnet die Tore für ausländische Arbeitskräfte, aber vermeidet aus Angst vor populistischen Kräften eine Debatte über Zuwanderung.—–