LEITARTIKEL

Mirakel oder Menetekel?

Noch vor kurzem ging in den Debatten über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland die Sorge vor der demografischen Lücke um: Ein Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren wurde beklagt, ganze Regionen bereiteten sich auf die Entleerung von...

Mirakel oder Menetekel?

Noch vor kurzem ging in den Debatten über die Zukunft des Wirtschaftsstandorts Deutschland die Sorge vor der demografischen Lücke um: Ein Mangel an Facharbeitern und Ingenieuren wurde beklagt, ganze Regionen bereiteten sich auf die Entleerung von Stadtvierteln vor, Ökonomen warnten vor den dramatischen Kosten der Alterung. Plötzlich, mit dem Anschwellen des Flüchtlingsstroms, scheint das Thema wie weggeschwemmt. Im laufenden Jahr sollen 800 000 bis 1 Million Menschen Asylanträge stellen, erwartet die Bundesregierung. Würde man die alle aufnehmen, so das Kalkül, wäre das Demografieproblem gelöst. Daimler-Chef Dieter Zetsche prophezeit gar ein “neues Wirtschaftswunder” durch die einströmenden “hochmotivierten” Flüchtlinge.Rein von den Zahlen her stimmt die Argumentation sogar. Deutschland braucht jährlich 700 000 Immigranten, um die Schrumpfung der Bevölkerung zu stoppen, hat die UN ausgerechnet. Doch setzen die Ökonomen dabei voraus, dass der überwiegende Teil zügig integriert wird und einen Job findet. Die Erfahrungen bisher zeigen aber, dass es just an der Integration hapert. Und auch die Beschäftigungsquote ist bei Migranten selbst Jahre später dramatisch niedriger als bei Inländern. Auf absehbare Zeit findet die Einwanderung also eher in die Transfersysteme statt, was die Staatsausgaben aufbläht und die Sozialbeiträge steigen lässt. Das wird die Lohnkosten in die Höhe treiben und Jobs kosten. Demografen zweifeln zudem daran, dass die Bevölkerungsentwicklung durch den Flüchtlingsstrom so schnell ins Positive gedreht werden kann. Allenfalls von einer Abmilderung der negativen Effekte ist die Rede. Und sollten sich die Flüchtlinge dann sogar soweit integrieren, dass sie sich selbst dem deutschen Fertilitätsniveau annähern, wäre nichts gewonnen – nur alles verzögert.Es sind also nicht wirtschaftliche Gründe, die eine Aufnahme der Flüchtlinge hilfsweise argumentativ nahelegen. Die braucht es aber auch gar nicht, weil es die humanitäre Pflicht demokratisch-freiheitlicher Staaten ist, den vor Krieg und politischer Verfolgung fliehenden Menschen zu helfen, ihnen Obdach und eine Perspektive zu geben. Doch gerade bei dieser zutiefst humanen Aufgabe fühlt sich Deutschland von der westlichen Staatengemeinschaft alleingelassen und angesichts der Dimension des Flüchtlingsstroms zunehmend überfordert. Und das kann weitaus dramatischere ökonomische Folgen haben, als in den fiskalischen Zusatzkosten zum Ausdruck kommt: Die Institutionen in Deutschland warnen vor einem Kontrollverlust, was oft Rassismus und Rechtsradikalismus nach sich zieht; und der Unwille vieler Nachbarländer zu einer europäischen Lösung, trägt neue Zwietracht in die EU, was an den Grundfesten der Gemeinschaft rüttelt. Innenpolitiker fordern eine Begrenzung des Zustroms, weil die Sozialsysteme keine uneingeschränkte Zuwanderung verkraften könnten. Und so wendet sich der Blick nach Europa. Doch selbst die geplante Neuverteilung von 160 000 Migranten stockt; und manche Länder sperren sich ganz. Müssen in einer solchen Situation, welche die Staatlichkeit einzelner Länder bedroht, doch Grenzen wieder “befestigt” werden? Ein fatales Signal für Europa.Die Flüchtlingskrise zeigt einmal mehr, dass es mit der vielbeschworenen Solidarität und “Vertiefung” der EU doch nicht so weit her ist, wie stets beteuert. Erste Risse wurden schon bei der Finanz- und Griechenlandkrise offenbar, als die für die Eurozone vereinbarten Regeln einfach gebrochen wurden; ein Zustand, der bis heute anhält. Und nun, da Berlin um Entlastung nachsucht und auf Ablehnung stößt, bilden sich weitere Risse. Welche Wirkungen dies für das Europabild der Deutschen haben wird, lässt sich leicht ausmalen. Die Türkei, nicht gerade ein Hort des Humanismus, soll jetzt den Flüchtlingsstrom drosseln und den Bösewicht spielen, damit Berlin und Brüssel den Offenbarungseid vermeiden können.Ist Europa also doch nur ein großer Wirtschaftsraum? Wenn es darum geht, in Krisen gemeinsam zu handeln, wie es einer Gemeinschaft ziemt, scheitern die Koordinierungsinstanzen in Brüssel grandios. Die Staaten müssen das selber in die Hand nehmen. Wozu taugt dann die Gemeinschaft? Womöglich ist die britische Forderung nach einer Reduzierung der EU auf den Binnenmarkt doch der zukunftsweisendere Ansatz. Das Unvermögen der EU in der Flüchtlingskrise wird Folgen haben – für den Kontinent selbst, für seinen Zusammenhalt, aber auch für seine Rolle in der globalisierten Welt, und damit für seine ökonomische Zukunft.——–Von Stephan LorzDas Versagen der EU im Umgang mit der Flüchtlingskrise beschwört größere Gefahren herauf, als die fiskalischen und organisatorischen Probleme zeigen.——-