„Mittelosteuropa längst keine verlängerte Werkbank mehr“
Stefan Reccius.
Herr Hermes, die EU-Mitglieder in Mittelosteuropa, allen voran Polen, werden für Deutschland wirtschaftlich immer bedeutender. Gleichzeitig nehmen die politischen Querelen mit der EU-Kommission zu. Bereitet Ihnen diese Entwicklung Kopfschmerzen?
Wir sehen die Auseinandersetzungen zwischen Brüssel, Warschau und Budapest natürlich mit Besorgnis. Unsere gemeinsamen Wirtschaftsbeziehungen sind eine beispiellose Erfolgsgeschichte geworden. Polen ist heute der fünftwichtigste Handelspartner Deutschlands weltweit. Polen und Ungarn sind zudem wichtige Investitions- und Innovationsstandorte für deutsche Unternehmen. Angesichts weltweiter Tendenzen zum Decoupling, der Entkoppelung von Wirtschaftsräumen, sollten wir erfolgreiche Partnerschaften festigen und ausbauen. Die EU muss integrationsfähig sein, sowohl gegenüber den eigenen Mitgliedstaaten als auch gegenüber potenziellen Beitrittskandidaten.
Spekulationen über einen Polexit haben Sie als „unverantwortlich“ bezeichnet. Kann ein Land, das in zentralen Punkten nicht die Normen und Werte der EU teilt, langfristig Teil der EU bleiben?
Lassen Sie mich eines ganz klar sagen: Rechtssicherheit und eine unabhängige Justiz sind für deutsche Unternehmen unerlässliche Voraussetzungen für die Sicherheit von Handel und Investitionen und somit unverhandelbar. Aber ich halte gar nichts davon, jetzt eine Austrittsdiskussion vom Zaun zu brechen. Wir haben beim Brexit gesehen, wie schnell so etwas eine gefährliche Eigendynamik gewinnt. Wir sollten übrigens auch auf die innenpolitische Diskussion in den Ländern selbst vertrauen. Wir sehen ja, dass es in beiden Ländern durchaus andere Stimmen gibt. Und die Zustimmung zur EU ist in kaum einem anderen EU-Land so hoch wie in Polen.
Große Probleme gibt es auch mit Ungarn. In beiden Fällen hält die EU-Kommission Milliarden aus dem Wiederaufbaufonds zurück. Ist dies das richtige Druckmittel?
Das ist eine politische Frage, über die die europäischen Institutionen und die Mitgliedstaaten entscheiden müssen. Ich gebe nur zu bedenken, dass Verzögerungen bei der Zuteilung von EU-Mitteln auch die deutschen Unternehmen in Polen und Ungarn treffen. EU-kofinanzierte Investitionen sind seit 2004 ein maßgeblicher Wachstumstreiber. Die Regierungen in Warschau und Budapest sollten sich im Interesse der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung ihrer Länder genau überlegen, ob sie das aufs Spiel setzen wollen. Aber auch die EU kann kein Interesse daran haben, diese wachstumsstarken Mitgliedsländer nachhaltig zu schwächen. Für die Zukunft der EU ist es wichtig, dass die Mittel aus dem Wiederaufbaufonds Next Generation EU jetzt schnell abgerufen und in den digitalen und grünen Wandel investiert werden können.
Die 27 EU-Staaten sind sich selten einig. Trotzdem treten Sie für eine Ost-Erweiterung der EU auf dem Balkan ein. Warum?
Die EU-Beitrittsperspektive ist ein entscheidender Faktor für die weitere Demokratisierung und Modernisierung der Länder des westlichen Balkans sowie die Stabilität der Region und damit auch Europas. Es ist ein Trauerspiel, dass der 2020 beschlossene Beginn der Beitrittsgespräche mit Albanien und Nordmazedonien auf sich warten lässt, weil einzelne EU-Mitglieder diese blockieren. Damit droht die EU auch in dieser Region an Glaubwürdigkeit als verlässlicher Partner zu verlieren. Wir erwarten von der neuen Bundesregierung, dass sie an das Engagement der scheidenden Regierung anknüpft und sich in Brüssel entschlossen für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen einsetzt. Der Ost-Ausschuss setzt sich gezielt für die Stärkung der regionalen Zusammenarbeit in Südosteuropa ein, etwa im Rahmen der jährlichen Digital Summits und mit Hilfe des Zoran-Djindjic-Stipendienprogramms der Deutschen Wirtschaft für die Nachwuchsförderung.
Bulgarien und Kroatien streben in den Euro. Sollte angesichts der bestehenden Ungleichgewichte nicht das Prinzip Sorgfalt vor Schnelligkeit gelten, um die Stabilität des Euro sicherzustellen?
Für den Beitritt zum Euro gibt es ja klare Vorgaben. Dazu gehört unter anderem ein „Warteraum“, in dem die Anwärter bestimmte Konvergenzkriterien erfüllen müssen. Insofern sehe ich nicht die Gefahr, dass hier die Sorgfalt auf der Strecke bleibt. Ich darf auch daran erinnern, dass alle Mitgliedstaaten der EU grundsätzlich verpflichtet sind, den Euro einzuführen, sobald sie die Konvergenzkriterien erfüllen.
In Osteuropa könne künftig das digitale Herz der EU schlagen: Was meinen Sie damit?
Die mittel- und osteuropäischen Länder haben eine hohe Affinität zur digitalen Transformation, von der deutsche Unternehmen lernen und profitieren können. In vielen unserer östlichen Partnerländer innerhalb und außerhalb der EU haben sich in den vergangenen Jahren lebendige und hochinnovative Start-up-Szenen entwickelt. Das sind Partner auf Augenhöhe, die mit ihrer Innovationskraft und ihren Ideen einen wichtigen Beitrag zur Digitalisierung der europäischen Wirtschaft leisten können. Der Ost-Ausschuss engagiert sich im Rahmen von Initiativen zur Digitalisierung mit den Ländern des westlichen Balkans, mit Russland, Belarus und der Ukraine.
Angesichts gravierender Materialengpässe und Logistikprobleme haben Unternehmen im Zuge der Pandemie ihre Überlegungen für eine Rückverlagerung von Lieferketten intensiviert, Stichwort Reshoring. Wird Osteuropa für deutsche Unternehmen zum neuen China?
Das würde ich so nicht formulieren. Die Weltwirtschaft wird in Zukunft von einer stärkeren Regionalisierung der Wertschöpfungsketten in den drei großen Wirtschaftszentren Nordamerika, EU und Asien geprägt sein. Osteuropa wird dabei ein zunehmend wichtiger Standort im europäischen Raum sein. Schon heute ist die Industrie insbesondere in Mittelosteuropa eng mit den Wertschöpfungsketten deutscher Unternehmen verflochten. Dies sichert dank günstiger Zulieferungen dann auch Arbeitsplätze in Deutschland.
In der EU gibt es Bestrebungen zur Einführung eines Mindestlohns in sämtlichen Mitgliedstaaten. Verliert Osteuropa dann seinen Wettbewerbsvorteil?
Nein, Mittelosteuropa ist längst keine verlängerte Werkbank mehr, die allein mit niedrigen Lohnkosten punktet. Die Region ist inzwischen ein attraktiver Standort für Unternehmen auch im Bereich Hightech-Produktion oder Forschung und Entwicklung. Da sorgt die Konkurrenz um die zunehmend knappen qualifizierten Fachkräfte, die wir überall in Mittel- und Osteuropa spüren, ohnehin für höhere Löhne.
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