IM INTERVIEW: SERGEJ GURIEW

Moskau will "aus der Isolation heraus"

Künftiger Chefökonom der Osteuropabank zur Lage in Russland - Über Reformen wird "geredet, aber mehr nicht"

Moskau will "aus der Isolation heraus"

Er gilt als Russlands Starökonom. Im Frühjahr 2013 verließ Sergej Guriew fluchtartig das Land. Die Ermittler hatten sein Büro gefilzt, weil er als einer von mehreren Experten die russische Position in der Causa der Renationalisierung des Ölkonzerns Yukos kritisch analysiert hatte. Seither lehrt Guriew in Paris, wird aber im Sommer dieses Jahres als erster Russe den Posten des Chefökonomen in der Europäischen Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) übernehmen. Im Interview der Börsen-Zeitung gibt er einen detaillierten Befund über Russland ab.- Herr Guriew, noch haben Sie Ihr Amt als EBRD-Chefökonom nicht angetreten, können also als einer der profundesten Kenner der russischen Wirtschaft sprechen. Hat diese die Talsohle der Krise durchschritten oder nicht?Nein. Das Tempo der Wirtschaftsschrumpfung verlangsamt sich zwar, aber die Schrumpfung geht weiter.- Wie stark?Es hängt vom Ölpreis ab. Die derzeitige Konsensprognose liegt bei minus 1 % für 2016. Wenn der Ölpreis von den jetzigen 42 Dollar pro Barrel wieder auf 35 bis 30 Dollar fällt, dürfte das Bruttoinlandsprodukt sogar um 2 % schrumpfen.- Also der bestimmende Faktor ist trotz allem der Ölpreis?Ja. Sehen Sie, im Vorjahr betrug die Kontraktion des BIP knapp 4 %. Ich würde sagen, wenn der Ölpreis auf alten Höhen wäre und keine Sanktionen bestünden, hätte Russland im Vorjahr ein Wachstum von 2 % gehabt. Die Sanktionen verstärken einfach den Effekt des Ölpreises, weil Russland nicht so leicht Geld aufnehmen kann. Aber ich muss hinzufügen: Unter dem Begriff “Sanktionen” sind nicht nur die gegenwärtigen Beschränkungen zu verstehen, sondern auch die Ungewissheit, ob es künftig neue gibt. Investoren sind aufgrund dieser Risiken sehr beunruhigt. Daher fließt Kapital ab.- Aber Sie müssen schon zugeben, dass Russland auch bei einem hohen Ölpreis in eine strukturelle Krise geschlittert wäre, oder?Da haben Sie schon recht. Aber die Krise hätte eben so ausgesehen, dass es ein schwaches Wachstum gegeben hätte. Im Übrigen darf man eines nicht vergessen: Der Effekt des Ölpreisverfalls ist sehr schwer zu bestimmen, weil die Zentralbank ja Ende 2014 zu einem völlig freien Wechselkurs übergegangen ist, die Daten bis dahin aber darauf beruhen, dass die Zentralbank intervenierte. Indem sie den Rubel jetzt fallen lässt, federt sie die Wirkung des fallenden Ölpreises ab und schützt die einheimische Produktion.- Vor Jahren, in der Zeit des Rohstoffbooms, gab es Wirtschaftsfachleute in Russland, die sich einen Ölpreisverfall herbeisehnten, weil dieser die einzige Chance wäre, dass die Entscheidungsträger aufwachen und die nötigen Reformen angehen. Jetzt ist der Moment da. Wird dies als Chance genützt?Bisher ist es nicht zu sehen. Es wird zwar viel von Reformen geredet, aber mehr nicht. Nur bei einer einzigen ist man vorangekommen und hat wenigstens einmal gehalten, was man versprochen hat: und zwar beim Investitionsklima, wie Russlands bessere Platzierung beim internationalen Weltbank-Ranking “Doing Business” zeigt. Jetzt nimmt das Land Platz 51 ein. Staatspräsident Wladimir Putin hatte in seinen Erlässen vom Mai 2012 angekündigt, dass Russland bis 2015 von Platz 120 auf Platz 50 und dann bis 2018 auf Platz 20 vorrücken werde. Platz 20 wird zwar schwer erreichbar sein, aber Platz 50 ist schon geschafft.- Dann müsste ja Kapital zufließen?Ja, müsste. Aber wegen der Isolation, der Sanktionen und der politischen Risiken flieht es eben wieder und führt nicht zu mehr Investitionen.- Russland hatte ja schon nach dem Rubel-Crash 1998 den Effekt, dass dadurch die einheimische Produktion angekurbelt wurde. Kann man das jetzt auch erkennen?Durchaus, obwohl der Effekt nicht sehr groß ist. Aber er hilft dabei, das Schrumpfen des BIP etwas abzufedern. Während also einerseits der Rubelverfall hilft, wird andererseits wegen der Finanzsanktionen der Zugang zu Krediten teurer. Gut, es liegt nicht nur an den Krediten, sondern auch am mangelnden Schutz von Eigentum und an der mangelnden Unabhängigkeit der Justiz.- Und doch ist immer öfter zu hören, dass russische Aktiva aufgrund der Rubelabwertung für ausländische Investoren jetzt attraktiv sind und man zugreifen solle.Wahrscheinlich gibt es Leute, die jetzt reingehen. Aber es ist auch so, dass die, die dazu raten, selbst nicht investieren.- Schon vor knapp zwei Jahren meinten Sie, die Sanktionen würden erst 2017/2018 nach unten durchschlagen und beim Volk spürbar. Sind Sie noch immer der Ansicht?Das Problem ist, dass Russland dann im Sommer 2014 als Reaktion auf die Sanktionen noch ein Importembargo verhängt hat. Und dieses hat sich auf die Leute unmittelbar ausgewirkt, weil etwa die Lebensmittelpreise stiegen. Außerdem wurden die Sanktionen weiter verschärft. Als größtes Risiko habe ich aber schon damals den Investitionsstopp durch die Unternehmen gesehen. Die Kapitalflucht hatte 2014 sagenhafte 150 Mrd. Dollar betragen. Das konnte man nicht vorhersehen. Und was die nicht formalen Sanktionen betrifft, so wissen wir darüber wenig: Man hört viel davon, dass westliche Beamte ihren Unternehmen raten, nicht in Russland zu investieren.- Wie soll man mit den russischen Machthabern umgehen? Die Sanktionen lockern, wie es die Amerikaner zwischendurch andeuteten?Mir scheint, dass die Amerikaner und Europäer ein und dasselbe sagen: Die Aufhebung der Sanktionen hängt von der Erfüllung der Minsker Vereinbarungen ab. Es ist nicht meine Aufgabe, dem Westen Ratschläge zu erteilen.- Gut. Aber Sie wissen, wie man am besten mit der derzeitigen Führung im Land umgehen soll.Kein Kommentar.- In einem Aufsatz Ende des Vorjahres haben Sie dargelegt, dass Putin den Weg einer Deglobalisierung eingeschlagen habe: Im Jahr 2012 nämlich habe der Kreml kapiert, dass das alte Wachstumsmodell zu Ende sei. Damit sei aber auch die ungeschriebene Vereinbarung mit dem Volk zu Ende gegangen, dass es sich politisch nicht einmischt und dafür einen stabilen Wohlstand erhält. In dieser Situation habe der Kreml taktisch eine andere Karte gezückt und auf nationalistische Aktionen gesetzt, die dann – auch wegen der Sanktionen – in einer Isolation geendet habe. Nun frage ich: Würde man die Sanktionen aufheben, würde Putin dann seinen Deglobalisierungsweg wieder aufgeben müssen?Wir wissen in Wirklichkeit nicht, wohin die Aufhebung der Sanktionen führen würde. Geht man von den Erklärungen aus, die aus Russland zu hören sind, so will das Land jedenfalls aus der Isolation heraus, weil sie einfach teuer zu stehen kommt.- Ja, aber Öffnung hieße, dass die politisch taktische Karte des Nationalismus und der Isolation aufgegeben werden muss. Und wenn Putin dann noch zu Reformen gezwungen ist, bedroht das ja seine Popularität. Er sitzt zwischen zwei Stühlen, oder?Das kommentiere ich nicht.- Dann werden Sie wohl auch nicht darauf antworten, wenn ich frage, ob eine Öffnung Russlands einen Machtwechsel voraussetzt?Ja, werde ich nicht. Ich kann nur sagen: Selbst wenn die Sanktionen aufgehoben werden, befindet sich Russlands Staatsführung in einer schwierigen Situation. Ökonomisch gibt es sehr viele Probleme. Allein schon, dass man kein Budget für drei Jahre mehr erstellen kann. Kürzungen bei den Ausgaben wurden ja vorgenommen. Aber wo wird man den Rotstift ansetzen, wenn weitere Einsparungen notwendig sind? Man wird nicht umhinkommen. Daher wäre es gut, wenn es zu Reformen käme.- Der Spielraum ist sehr eng?Ja, weil das Geld zu Ende geht. Bei einem niedrigen Ölpreis wie zu Beginn des Jahres wird der Reservefonds, der damals 4,5 % des BIP ausgemacht hat, schon 2016 ausgeschöpft sein. Wenn der Ölpreis so wie jetzt oder eher bei 50 Dollar je Barrel liegen würde, würde der Reservefonds für 2016 reichen. Für 2017 aber nicht mehr.- Kann man also festhalten, dass Putin mit der Abschottung gegenüber dem Ausland das Land in eine Sackgasse geführt hat?Dani Rodrik, Ökonom in Harvard, sagte einmal, noch kein Land sei wirtschaftlich aufgeblüht, wenn es sich von der Außenwelt isoliert hat. Und das stimmt.- Wie sollte ein Mensch wie Putin das Land, das er schon 15 Jahre regiert und wirtschaftlich in diese Situation manövriert hat, nun plötzlich zu einem prosperierenden Land machen?Wenn Sie Putins Reden lesen, können Sie viele reformfreundliche Aussagen finden. Und auch in der Realität hat man ja gesehen, dass er etwa zu Beginn Reformen durchgeführt und Russland in die globale Wirtschaft integriert hat. Und das zu einer Zeit, als der Ölpreis so niedrig war wie heute. Er hat also auch diese Erfahrung. Jetzt ist es aber schwieriger, weil es einen Mangel an Vertrauen zum Westen gibt. Ein gutes Verhältnis zum Westen ist aber für Russlands wirtschaftliche Entwicklung sehr nützlich – das haben auch Putin und Premierminister Dmitri Medwedjew immer wieder gesagt.- Denken Sie, dass dieses gute Verhältnis mit dem Westen wiederhergestellt werden kann?Ich denke, ja.- Die Hinwendung Russlands zu China als Reaktion auf das Zerwürfnis mit Europa war meines Erachtens bisher nicht erfolgreich. Was sagen Sie?Im Prinzip gibt es bislang keine spürbaren wirtschaftlichen Erfolge daraus. Es gibt viele Erklärungen und Pläne, ja, aber weder eine Zunahme der Investitionen noch des Handels – was natürlich auch mit dem Ölpreis zusammenhängt, da der Ölexport billiger wurde. Man darf nicht übersehen, dass China riesige Verbindungen mit Amerika und Europa hat. Für China sind die USA ein weitaus größerer Partner als Russland. Angesichts dessen waren die anfänglichen Pläne Russlands wohl zu ambitioniert.- Worauf werden Sie sich bei der EBRD konzentrieren?Bevor ich dort anfange, will ich dazu noch nichts sagen.—-Das Interview führte Eduard Steiner.