Nach der Auferstehung ist vor dem Fall

Sechs Jahre nach der Krim-Annexion hat sich die Ukraine gerade erst erholt - aber jetzt kommt Corona

Nach der Auferstehung ist vor dem Fall

Von Eduard Steiner, MoskauDass es im ukrainischen Parlament zu Handgreiflichkeiten kommt, ist für sich noch keine Sensation. Immer wieder mal fliegen die Fäuste unter den politisch heterogenen Abgeordneten, die vielfach einen der großen Oligarchen repräsentieren. Blut floss diesmal zwar nicht. Aber in die Haare gerieten sich die Volksvertreter in den Wochen vor der jüngsten Beschlussfassung sehr wohl.Das aber kann kaum verwundern, schließlich ging es um Reformen, die im wahrsten Sinne des Wortes das Beiwort historisch verdienen. Das gilt vor allem für das Gesetz zur Freigabe des Handels mit Ackerland, das größtenteils aus fruchtbaren und extrem begehrten Schwarzerdeböden besteht. Seit dem Jahr 2000 hatte dieser Handel einem Moratorium unterlegen. Nun wurde er mit 259 Stimmen ab Juli 2021 freigegeben – zumindest für Inländer.Dass sich die Ukrainer dazu durchgerungen haben, liegt in Wahrheit an der Not. Damit das Land angesichts der Coronakrise nicht plötzlich wieder in gefährliche Schieflage gerät, springt abermals der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem in Aussicht gestellten Kredit von 8 Mrd. Dollar ein. Als Bedingung dafür aber hatte er die Bodenreform genannt – und dazu noch ein Gesetz zum Bankensektor, das die Rückgabe verstaatlichter Banken an die ursprünglichen Besitzer verbietet, sowie ein neues Budget mit entsprechenden Ausgabenkürzungen. Die letzteren beiden stehen noch aus. Sie werden für die neue Regierung des Präsidenten und Exkomikers Wolodymyr Selenskyj zu einem riskanten Unterfangen. “Gefährliche Situation””Die Situation ist sehr gefährlich”, sagte Wolodymyr Dubrowskyi, Chefökonom beim Institut CASE Ukraine, der Börsen-Zeitung. Das geplante Bankengesetz nämlich richte sich gegen den Oligarchen Ihor Kolomojskyj, dessen “Privatbank”, die größte des Landes, 2016 verstaatlicht werden musste und der die Selenskyj-Wahl 2019 finanziert hat, um unter anderem die Bank wieder zurückzubekommen. Die Emanzipation Selenskyjs von ihm dürfte nun zum “Moment der Wahrheit” werden. Zudem sei laut Dubrowskyj die jetzige Regierung “die schwächste seit Jahren”, weil Selenskyj genau wie seine Vorgänger nicht auf die staatlichen Institutionen baue und im Unterschied zu seinen Vorgängern auch keine Clan-Strukturen habe, weshalb er die Regierung aus seinen persönlichen Freunden zusammengesetzt habe. Und schließlich habe Selenskyj sein Amt in einer eben erst relativ erholten Wirtschaft gestartet, die nun vor ihrem nächsten Fall stehe.In der Tat hat sich die Wirtschaft in Europas flächengrößtem Staat mit seinen 42 Millionen Einwohnern nach dem tiefen Fall infolge der Krim-Annexion 2014 und des Separatistenkonflikts im Donbass zuletzt wieder kräftig erholt. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erreichte im Vorjahr zwar noch nicht das Niveau von 2013, das BIP pro Kopf nach Kaufkraftparität aber lag 2019 auf einem Rekordhoch. Strukturell sank beim Export die Abhängigkeit vom Metal-lurgiesektor zugunsten des Agrarsektors und des IT-Sektors. Auch der neue Vertrag mit Gazprom zum Gastransit trägt zur Stabilisierung bei. Im Übrigen reduzierte sich der Handel mit Russland zugunsten der EU, die mittlerweile größter Handelspartner ist – woher auch wichtige Rücküberweisungen von Auslandsukrainern kommen. Die Währungsreserven sind auf ein Siebenjahreshoch von 25,3 Mrd. Dollar gestiegen.Natürlich habe der anhaltende Konflikt um die Ostukraine die Wirtschaft stark gebremst, so Dubrowskyj: Rein wirtschaftlich aber sei der Wegfall der Ostukraine und der Krim, die beide Nettoempfänger aus dem Staatshaushalt gewesen seien, kein Verlust.Die globalen Verwerfungen infolge des Coronavirus führen nun aber dazu, dass die ukrainische Regierung die Prognose für das BIP-Wachstum 2020 von 3,9 % auf eine Kontraktion in dieser Größenordnung revidieren musste. Das Kiewer Institut für Wirtschaftsforschung erwartet nach dem vorjährigen Plus von 3,2 % nun gar ein Minus von 5,9 %.