KOMMENTAR

Narbeneffekte

Erinnert sich noch jemand an Mark Carney und Forward Guidance? Was hat der Kanadier als Gouverneur der Bank of England nicht alles an Kritik dafür einstecken müssen, dass er den Markt mit zukunftsgerichteten Aussagen in die falsche Richtung laufen...

Narbeneffekte

Erinnert sich noch jemand an Mark Carney und Forward Guidance? Was hat der Kanadier als Gouverneur der Bank of England nicht alles an Kritik dafür einstecken müssen, dass er den Markt mit zukunftsgerichteten Aussagen in die falsche Richtung laufen ließ. Doch seitdem er der Old Lady of Threadneedle den Rücken gekehrt hat, fühlt man sich dort noch weniger verpflichtet, die Geldpolitik der Zukunft für die Öffentlichkeit berechenbarer zu machen. Die Coronavirus-Pandemie ist eine großartige Rechtfertigung für die Notenbanker, keine ernsthaften Prognosen mehr abgeben zu müssen, sondern mit einem “illustrativen Szenario” zu arbeiten, auf das sie sich keinesfalls festnageln lassen wollen.Schon die ganz normale Wirtschaftsentwicklung folgt ja oft nicht den realitätsfernen Modellen von Zentralbankökonomen. Doch die Panik, die von der neuartigen Lungenkrankheit Covid-19 vielerorts ausgelöst wurde, ist darin überhaupt nicht vorgesehen. Zwar rechnen die Volkswirte nun mit einem Konjunktureinbruch, wie es ihn seit mehr als 300 Jahren nicht gegeben hat. Doch schon für das kommende Jahr haben sie eine rasante Erholung angesetzt. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass die Ausgangsbeschränkungen in den kommenden Monaten schrittweise gelockert werden und es noch vor Jahresschluss zum Abschluss eines umfassenden Freihandelsabkommens mit der EU kommt. Zur Wahrscheinlichkeit des Eintretens dieser Bedingungen äußerten sie sich wohlweislich nicht.Carneys Nachfolger Andrew Bailey sprach von Narbeneffekten, als es um die bleibenden Effekte der Anti-Corona-Maßnahmen ging, mit denen die Regierung die Wirtschaft auf Talfahrt schickte. Angesichts des Erfolgs der Hilfsmaßnahmen für Unternehmen dürften sie begrenzter Natur sein, behauptete der Notenbankchef. Doch hat die Angstkampagne der vergangenen Wochen in der Bevölkerung so große Verunsicherung ausgelöst, dass viele Briten auch nach einer Lockerung der Kontaktbeschränkungen lieber zu Hause bleiben werden. Sie wollen gar nicht zurück in den Pub, ins Restaurant oder in den Billigflieger nach Benidorm. In der Dienstleistungsbranche ist viel Geschäft unwiederbringbar verloren. Manche wären nicht einmal dazu bereit, ihre Kinder wieder in die Schule zu schicken. Zu tief sitzt die Angst, nachdem den Menschen wider besseres Wissen eingehämmert wurde, das Virus sei für alle gleichermaßen gefährlich.Die Fluggesellschaften British Airways und Virgin Atlantic haben bereits Stellenstreichungen in großem Stil angekündigt. Sie werden nicht die letzten Firmen sein, die – Staatshilfe hin oder her – das für sie Unvermeidliche nicht länger hinauszögern wollen. Die wirtschaftlichen Narben werden also nicht so schnell verheilen wie von den Notenbankern unterstellt. Müsste Bailey solche Narben im Gesicht tragen, würde er nicht mehr wie ein in die Jahre gekommener Gymnasiast aussehen, sondern wie Al Pacino in Scarface.