Nationale Wohlfahrt legt trotz schrumpfendem BIP zu
Wohlfahrtsindex
steigt um 3 Prozent
ba Frankfurt
Geringere Umweltkosten, leicht gestiegene Konsumausgaben und mehr unbezahlte Arbeit im Haushalt haben 2023 für mehr Wohlstand in Deutschland gesorgt. Der Nationale Wohlfahrtsindex (NWI), ein Indikator zur Wohlstandsmessung über das Wirtschaftswachstum hinaus, ist im vergangenen Jahr um knapp 3% gestiegen, wie das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) mitteilte. Und dies, obwohl die deutsche Wirtschaft geschrumpft ist. Im laufenden Jahr dürfte der NWI erneut zulegen.
Für den Anstieg im vergangenen Jahr waren die niedrigeren Umweltkosten maßgeblich, die vor allem auf einem geringeren Energieverbrauch beruhen. „Dahinter stecken aber nicht nur positive Trends, sondern auch die schwache wirtschaftliche Entwicklung, die gleichzeitig Jobs bedroht“, mahnt das IMK. Denn der Löwenanteil erkläre sich schlicht durch Produktionsrückgänge, etwa der energieintensiven Industrien, die 10% weniger produzierten als 2022. Zudem gebe es Indizien dafür, dass anderswo in der Welt Produktion und Energieverbrauch entsprechend hochgefahren wurden.
Berechnungsmethode macht den Unterschied
Dass der NWI seit der Jahrtausendwende um rund 9% gestiegen ist, das reale Bruttoinlandsprodukt (BIP) jedoch um etwa 28%, liegt in der unterschiedlichen Messmethodik. Denn der NWI misst den Wohlstand nicht anhand der Wirtschaftsleistung, sondern in Form aufsummierter Konsumausgaben und vieler weiterer Faktoren, etwa Umweltbelastungen wie CO2-Emissionen, die Verteilung der Einkommen, unbezahlte Arbeit, Unfälle und Naturkatastrophen. Die Differenz zwischen BIP und NWI zeigt also, dass sich der Wohlstand hierzulande in den vergangenen Jahrzehnten weniger verbessert hat, als die Zunahme der Wirtschaftsleistung suggeriert. „Beispielsweise, weil Einkommen zwar wuchsen, aber zunehmend ungleich verteilt waren oder Produktionssteigerungen zulasten der Umwelt gingen“, erklären die Wirtschaftsforscher.
In der langfristigen Betrachtung zentral für die unterschiedliche Entwicklung von BIP und NWI sind die „Kosten der Ungleichheit“, die auf Basis der Einkommensungleichheit berechnet werden. Hier gab es 2023 zwar einen leichten Rückgang, doch liegen die Kosten der Ungleichheit weiter auf sehr hohem Niveau. Dass die Einkommensdifferenzen 2023 trotz Inflation und wirtschaftlicher Flaute leicht zurückgingen und nicht angestiegen sind, erklären die Forscher mit „Tarifabschlüssen mit substanziellen Lohnerhöhungen“, der Erhöhung von Mindestlohn und Bürgergeld und Instrumenten wie dem Kurzarbeitsgeld. Zudem gab es kaum „stärkere wohlfahrtsmindernde Effekte“. Lediglich bei den Posten Verkehrsunfälle, Kriminalität und Naturkatastrophen gab es leichte Zuwächse.
Konsum und Energieverbrauch sind bestimmende Faktoren
Eine positive Indikation für den NWI des laufenden Jahres messen die Forscher den etwas höheren Konsumausgaben im ersten Halbjahr bei, sowie dem erneuten Rückgang des Primärenergieverbrauchs, besonders von Kohle. Mit Blick auf die Ungleichheit stünden beachtliche Reallohnsteigerungen im zweiten Quartal und ein zu Jahresanfang merklich gestiegenes Bürgergeld einer nur geringen Mindestlohnerhöhung gegenüber, die bei Betroffenen zu realen Verlusten führten. Die Gesamtkosten für Naturkatastrophen werden 2024 auf jeden Fall höher sein als im Vorjahr. Dabei steht die Entwicklung hierzulande in einem global krisenhaften Kontext, „der zuletzt auch hierzulande immer greifbarer geworden ist und Gefahren durch Klimawandel, eskalierende kriegerische Konflikte und wirtschaftliche Abhängigkeiten umfasst“, wie die Studienautoren Benjamin Held und Dorothee Rodenhäuser vom Heidelberger Institut für Interdisziplinäre Forschung (FEST) erklären. Das FEST berechnet mit Förderung des IMK den Nationalen Wohlfahrtsindex.
Breiterer politischer Ansatz als nur das BIP
Die Studienautoren fordern einen breiteren politischen Ansatz, der ökologische Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit maßgeblich mitberücksichtigt. „Denn nur, wenn innerhalb der planetaren Grenzen gewirtschaftet wird, das gesellschaftliche Fundament für möglichst alle Menschen gesichert und der gesellschaftliche Zusammenhalt nicht durch zu große Ungleichheiten gefährdet ist, scheint ein freiheitliches und friedliches Zusammenleben langfristig denk- und erreichbar“, schreiben die FEST-Forschenden. Konkret sei es dafür zunächst nötig, „bei der Transformation der Wirtschaft darauf zu achten, dass gute Jobs erhalten und geschaffen werden und die Kosten fair verteilt werden“, erklärt IMK-Direktor Sebastian Dullien.