LEITARTIKEL

Neue Regierung, altes Leid

Wohl selten zuvor ist in Brüssel die sich abzeichnende Bildung einer neuen Regierung in einem EU-Mitgliedstaat mit solcher Erleichterung aufgenommen worden wie derzeit im Falle Italiens. In den europäischen Institutionen sind in den letzten Tagen...

Neue Regierung, altes Leid

Wohl selten zuvor ist in Brüssel die sich abzeichnende Bildung einer neuen Regierung in einem EU-Mitgliedstaat mit solcher Erleichterung aufgenommen worden wie derzeit im Falle Italiens. In den europäischen Institutionen sind in den letzten Tagen viele Kreuze geschlagen worden, dass die Populisten-Koalition aus Fünf-Sterne-Bewegung und Lega zerbrochen und der Spuk damit nach 13 Monaten vorerst zu Ende ist. Vor allem Matteo Salvini von der rechten Lega, der als Innenminister der starke Mann dieses Bündnisses war, hat in dieser Zeit ja viel Porzellan zerschlagen und die EU-Kommission mit Provokationen im Haushaltsstreit oder im Umgang mit Flüchtlingen immer wieder vor sich hergetrieben. Auch der Euroraum insgesamt wurde einer echten Belastungsprobe unterzogen.Die spektakuläre Selbstentmachtung von Salvini war so noch vor wenigen Wochen kaum absehbar gewesen – was die Erleichterung in Brüssel wohl noch etwas größer macht. Noch bei der Europawahl hatte die Lega ja mit einem Rekordergebnis triumphiert. Seither war in Brüssel immer wieder mit Bangen darüber gerätselt worden, wen Salvini als nächsten EU-Kommissar nominieren könnte. Schließlich hatte er – ebenso wie Rechtspopulisten aus anderen Staaten – vor der Wahl die Strategie ausgegeben, die EU von innen heraus reformieren und grundlegend verändern zu wollen.Sollten jetzt tatsächlich Fünf Sterne und die sozialdemokratische Partito Democratico (PD) eine Koalition “der Umkehr” bilden, dürfte diese einen europafreundlichen Kurs fahren – auch wenn der Regierungschef weiter Giuseppe Conte heißt. Die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen wird die noch immer ausstehende Nominierung des italienischen Kandidaten für ihr Team mit weitaus weniger Sorgen erwarten als bisher. Und was vielleicht das Wichtigste ist: Es wird wieder eine gemeinsame Gesprächsbasis zwischen Rom und Brüssel geben. Ein Negieren und Ignorieren europäischer Regeln wie unter Salvini wird es mit den Sozialdemokraten kaum geben.Ist damit wieder alles im Lot? Ist der italienische Patient geheilt, sollten PD und die Fünf-Sterne-Bewegung ihre alten Rivalitäten tatsächlich überwinden und ein neues Regierungsbündnis schmieden? Beileibe nicht. Denn an den Problemen und Herausforderungen des Landes hätte sich ja nichts verändert: Die horrende Verschuldung des Landes dürfte nächstes Jahr weiter ansteigen. Zu der seit mehr als einer Dekade anhaltenden Wachstumskrise in der drittgrößten Volkswirtschaft der EU kommt jetzt auch noch eine Konjunkturabschwächung. Die italienischen Banken leiden weiterhin unter einer hohen Quote an faulen Krediten. Und in der Flüchtlingsfrage sind noch immer keine tragfähigen europäischen Lösungen in Sicht.Auch die neue italienische Regierung – die dann 66. der Nachkriegszeit – steht unter einem gehörigen Druck. Bereits Mitte Oktober muss sie ihren Haushaltsentwurf für 2020 zur Prüfung nach Brüssel schicken. Im laufenden Jahr hat Rom ein Defizitverfahren der EU erst im Juli nach milliardenschweren Nachbesserungen im Etat gerade noch vermieden. Das Thema könnte aber schnell wieder in den Fokus rücken: Die bisherigen Prognosen sehen nämlich für 2020 ein Haushaltsminus von 3,5 % des Bruttoinlandsprodukts vor, was die Staatsverschuldung dann auf 135 % des BIP in die Höhe treiben würde. Dies wäre ein klarer Verstoß gegen die EU-Regeln.Die neue Regierung muss rasch gegensteuern, hat dann aber kaum noch Spielräume, eigene Akzente und Impulse zu setzen. Von der Leyen sollte sich darum darauf einstellen, dass sich an den bisherigen Forderungen aus Rom nach einer gewissen “Flexibilität” bei der Auslegung der Haushaltsregeln und den Appellen an mehr “europäische Solidarität” nicht viel ändern wird. Die neue EU-Kommission, die im November antritt, wird damit wohl gleich vor der kniffligen Aufgabe stehen, einem Neuanfang in den Beziehungen nicht im Wege zu stehen und die neue europafreundliche Koalition zu unterstützen – ohne die Regeln des Stabilitäts- und Wachstumspakts zu ignorieren.Ob die neue Regierung mit mehr Brüsseler Hilfe bis zum Ende der Legislatur 2023 halten kann, ist völlig offen. Der scheidende EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker ließ dem alten und wahrscheinlichen neuen Ministerpräsidenten Conte gestern ausrichten, Italien spiele “eine zentrale Rolle in unserer europäischen Familie”. Die EU zähle auf seinen “aktiven Beitrag zum europäischen Projekt”. Nach den vergangenen Monaten ist dieser Wunsch mehr als verständlich.——Von Andreas HeitkerDie geplante neue, europafreundliche Regierung in Italien steht gleich unter Druck: An den Problemen des verschuldeten Landes hat sich nichts verändert.——