LEITARTIKEL

Niedersachsen entscheidet

Keine andere Wahl in der sieben Jahrzehnte langen Geschichte des niedersächsischen Landtages hatte wohl eine so unmittelbar bundespolitische Bedeutung wie der Urnengang am kommenden Sonntag. Drei Wochen nach der Bundestagswahl wird der Ausgang der...

Niedersachsen entscheidet

Keine andere Wahl in der sieben Jahrzehnte langen Geschichte des niedersächsischen Landtages hatte wohl eine so unmittelbar bundespolitische Bedeutung wie der Urnengang am kommenden Sonntag. Drei Wochen nach der Bundestagswahl wird der Ausgang der Niedersachsen-Wahl zeigen, ob Kanzlerin Angela Merkel (CDU) mit einem weiteren Denkzettel in den Berliner Jamaika-Poker einsteigen muss oder ob Martin Schulz nach dem schlechtesten Ergebnis seiner Partei im Bund und vier verlorenen Landtagswahlen in einem Jahr noch SPD-Chef bleiben kann.Dass ein Erfolg für die Sozialdemokraten in Niedersachsen Umfragen zufolge überhaupt in Reichweite liegt, ist eine Überraschung. Erst vor zwei Monaten kostete der Übertritt einer Grünen-Abgeordneten zur CDU der seit 2013 amtierenden rot-grünen Koalition von Ministerpräsident Stephan Weil (SPD) die knappe Regierungsmehrheit und führte zu einem Vorziehen der ursprünglich für Januar 2018 vorgesehenen Wahl. Fast zeitgleich musste sich Weil nach Berichten über eine angeblich vom Volkswagen-Konzern weichgespülte Landtagsrede kurz nach Bekanntwerden der Dieselabgasaffäre im Herbst 2015 des Eindrucks erwehren, er lasse sich vom Wolfsburger Autobauer, an dem das Land mit 20 % beteiligt ist, durch die Manege ziehen. Doch weder das abrupte Ende der Landesregierung noch der Umgang mit der größten Krise in der Geschichte des Wolfsburger Unternehmens, das an sechs niedersächsischen Standorten 105 000 Menschen beschäftigt, haben den Ministerpräsidenten vor der Wahl aussichtslos zurückgeworfen. Im Gegenteil, seit der Bundestagswahl dreht der Wind.CDU-Herausforderer Bernd Althusmann, nach dem Verlust des Kultusministerpostens 2013 zweieinhalb Jahre für die Konrad-Adenauer-Stiftung in Namibia tätig, konnte einen komfortablen Vorsprung der Union in Umfragen nicht halten. Echte Wechselstimmung verspüren die Niedersachsen in dem Land, das wie Deutschland insgesamt gegenwärtig von der guten Wirtschaftslage profitiert, offenbar kaum. Nicht zu unterschätzen ist allerdings die Unzufriedenheit einer Mehrheit der Wähler mit der auf Landesebene wichtigen Bildungspolitik der amtierenden Regierung. Diese Unzufriedenheit trug schon zu den Wahlniederlagen der SPD-geführten Regierungen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen bei. Auch sähen viele Bauern im bundesweit größten Agrarland ihre Interessen durch eine unionsgeführte Regierung besser vertreten.Doch den meisten im zweitgrößten deutschen Flächenstaat mit seinen knapp 8 Millionen Menschen geht es gut. Die Wirtschaftsleistung Niedersachsens legte in den ersten sechs Monaten dieses Jahres wie das gesamtdeutsche BIP preisbereinigt um gut 2 % zu. Die Arbeitslosenquote, 2007 noch über 10 %, sank im September im Vorjahresvergleich um weitere 0,3 Prozentpunkte auf 5,6 % und entspricht ebenfalls annähernd dem bundesweiten Mittelwert von 5,5 %. Seit 2016 nimmt Niedersachsen keine neuen Kredite mehr auf. Der grundgesetzliche Auftrag der Schuldenbremse ist vier Jahre früher als gefordert umgesetzt.Auf wichtige Zukunftsfragen allerdings hat auch der Wahlkampf in Niedersachsen keine befriedigenden Antworten gegeben. Wie etwa die große Abhängigkeit des Landes von Volkswagen verringert werden könnte, blieb im politischen Streit über den Umgang mit den Folgen des Abgasskandals offen. Fast 40 % des niedersächsischen Industrieumsatzes gehen auf den Automobilbau zurück. In keinem anderen Bundesland gibt es eine derart hohe Konzentration in dieser Branche. Sollte da eine Regierung in Hannover blind darauf vertrauen, dass der Wolfsburger Konzern seine Position im anstehenden Wandel der Branche hin zu Elektromobilität, autonomem Fahren und Mobilitätsdienstleistungen hält und mit seinen Werken auch in Zukunft die Basis liefert für den Wohlstand in strukturschwachen Regionen? Müssten die Bedingungen für Existenzgründungen nicht verbessert und nicht viel mehr Mittel in den Ausbau des Wissenschaftsstandortes investiert werden?Sollten die Sozialdemokraten am Sonntag vor der Union landen, wäre dies ihr größter Erfolg in Niedersachsen seit den neunziger Jahren. Womöglich wird die Union aber auch ein weiteres Land für sich zurückerobern. Da die “Jamaika”- und “Ampel”-Optionen indes als kaum realisierbar erscheinen, könnte es zwischen Harz und Nordsee dann auch zu einer Verbindung kommen, die es in Berlin jetzt nicht mehr geben soll: die große Koalition.——–Von Carsten SteevensGeht die Union geschwächt in den Jamaika-Poker? Baut die SPD ihre Spitze um? Die bundespolitische Bedeutung der nächsten Landtagswahl ist hoch.——-