Notenbanker stellt geldpolitischen Konsens infrage
Von Mark Schrörs, FrankfurtDer Aufschrei war groß, als der damalige IWF-Chefvolkswirt Olivier Blanchard 2010 vorschlug, die Zentralbanken sollten ihre Inflationsziele von den verbreiteten 2 % auf 4 % anheben. Unisono lehnten die führenden Währungshüter rund um den Globus den Vorstoß aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ab, den Blanchard nicht zuletzt damit begründet hatte, dass bei dann grundsätzlich höheren Leitzinsen mehr Spielraum für Zinssenkungen in Krisenzeiten bestünde. Der damalige Bundesbankchef Axel Weber warnte gar: “Der IWF spielt mit dem Feuer.”An dieser Einstellung hat sich bis heute wenig geändert. Auch wenn die Weltfinanzkrise einige Grundsätze der Geldpolitik infrage gestellt hat – eine Debatte über ihre auf Preisstabilität ausgerichteten Mandate und über ihre Inflationsziele versuchen die Notenbanker meist im Keim zu ersticken. EZB-Präsident Mario Draghi warnte erst im Juni erneut, “jede Änderung würde die Glaubwürdigkeit der Notenbank untergraben”. Zumal in ohnehin unsicheren Zeiten wollen die Währungshüter nicht für zusätzliche Unsicherheit sorgen.Umso bemerkenswerter ist deshalb ein Beitrag des Präsidenten der regionalen Fed San Francisco, John Williams, den die Notenbank jetzt auf ihrer Internetseite veröffentlicht hat. Darin stellt er offen die bisherigen geldpolitischen Strategien infrage und liebäugelt damit, das Preisziel von 2 % anzuheben oder gar die Strategie der Inflationssteuerung ganz aufzugeben – zugunsten einer flexiblen Preisniveausteuerung oder einer Fokussierung auf das nominale Bruttoinlandsprodukt (BIP). Das aktuelle Rahmenwerk sei schlicht nicht geeignet, um mit den Herausforderungen der Zukunft fertigzuwerden, so Williams. Er denkt vor allem an den gesunkenen natürlichen Realzins, der auf Dauer niedrig bleiben werde. “Jetzt vorbereiten”Nun hat Williams zwar auch schon früher mal mit dem Gedanken höherer Inflationsziele gespielt. Die Klarheit und Vehemenz seines jetzigen Beitrags aber gibt ihm besonderes Gewicht: “Wir können auf den nächsten Sturm warten und hoffen, dass es besser ausgeht, oder wir bereiten uns jetzt vor und sind bereit.”Noch beachtlicher wird der Beitrag, wenn man weiß, dass der renommierte Forscher Williams zu den von Fed-Chefin Janet Yellen zuletzt bei geldpolitischen Reden am meisten zitierten Ökonomen gehört, wie Bloomberg aufgelistet hat. Zudem kommt der Beitrag kurz vor dem jährlichen Stelldichein der Notenbankelite in Jackson Hole nächste Woche. Thema dort: die Gestaltung widerstandsfähiger geldpolitischer Rahmenwerke für die Zukunft.Williams’ Analyse basiert auf der Einschätzung, dass der natürliche Realzins, der seit Jahrzehnten weltweit sinke (siehe Grafik), auch in Zukunft niedrig sein werde. Dieser Zinssatz wird vielfach definiert als der reale kurzfristige Zins, der mit einem potenzialgerechten Produktionswachstum und stabiler Inflation vereinbar ist. In den USA liege der Satz heute nur knapp über 0 % und im Euroraum gar unter null, so Williams.Während vor der Krise in den USA kurzfristige Zinsen von 4 % bis 4,5 % normal gewesen seien, sieht Williams die “neue Normalität” eher bei 3 % bis 3,5 %. Das aber bedeute, dass die Geldpolitik bei einem wirtschaftlichen Abschwung weniger Zinsspielraum habe, um gegenzusteuern. Die Konsequenz sei, dass Notenbanker stärker auf unkonventionelle Maßnahmen zurückgreifen müssten. Zudem würden Rezessionen länger andauern und tiefer sein.Die Strategie, eine niedrige Inflationsrate anzustreben, sei zwar in der Vergangenheit erfolgreich gewesen, um die Teuerung einzudämmen – “aber sie ist nicht gut geeignet für eine Ära mit einem niedrigen natürlichen Realzins”, so Williams. Die Zentralbanken sollten deshalb darüber nachdenken, “ein etwas höheres Inflationsziel” zu verfolgen, um mehr Puffer zur Nullzinsgrenze zu haben, oder statt einer bestimmten Inflationsrate eine Zielvorgabe fürs nominale BIP anzusteuern oder aufs Preisniveau abzuzielen. Bei Ersterem wird die Zentralbank auf Wachstum plus Inflation verpflichtet, bei Letzterem muss sie ein Unterschreiten des Inflationsziels später aufholen.Williams räumt ein, dass auch diese Vorschläge Risiken und Nachteile haben. Auf diese geht er aber kaum ein und erklärt, jetzt sei die Zeit gekommen, über so etwas nachzudenken. Als große Gefahr gilt insbesondere eine schwindende Glaubwürdigkeit der Geldpolitik, wenn sie wiederholt Ziele und Strategien ändert.Zudem gibt es durchaus kontroverse Ansichten über den natürlichen Zins sowie über Ursachen und Konsequenzen des Rückgangs. So argumentiert die Zentralbank der Zentralbanken BIZ, dass die Schätzungen dieses Zinses höher seien, wenn finanzielle Faktoren berücksichtigt würden. Zudem argumentiert sie, dass niedrige Zinsen selbst noch niedrigere Zinsen erzeugen, weil sie den Aufbau finanzieller Ungleichgewichte begünstigten und Ressourcen in unproduktive Bereiche leiteten. Die BIZ sieht deshalb die ultralockere Geldpolitik selbst als einen Grund für die aktuelle Wachstumsschwäche. Es wird also äußerst spannend sein zu sehen, wie andere Notenbanker dieses Mal auf Williams’ Vorschläge reagieren.