LEITARTIKEL

Perfekter Kompromiss gesucht

Der 750 Mrd. Euro schwere Wiederaufbaufonds, den die Staats- und Regierungschefs im Juli auf ihrem geschichtsträchtigen Vier-Tage-Gipfel beschlossen haben, war eine kraftvolle Antwort der EU auf die Coronakrise, die wenige Monate vorher so wohl...

Perfekter Kompromiss gesucht

Der 750 Mrd. Euro schwere Wiederaufbaufonds, den die Staats- und Regierungschefs im Juli auf ihrem geschichtsträchtigen Vier-Tage-Gipfel beschlossen haben, war eine kraftvolle Antwort der EU auf die Coronakrise, die wenige Monate vorher so wohl nicht vorstellbar gewesen wäre. Zusammen mit dem 540-Mrd.-Euro-Soforthilfepaket und dem neuen mehrjährigen EU-Haushaltsrahmen (MFR) wurde ein Finanzpaket geschnürt, das in Europa bisher seinesgleichen sucht, und das auch die Märkte beeindruckt hat. Der Wiederaufbaufonds hat nämlich das Potenzial, nicht nur bei der Krisenbewältigung zu helfen, sondern auch den Zusammenhalt der Mitgliedstaaten, die Finanzierung der EU, ihre finanzielle Integration und wirtschaftspolitische Koordinierung auf eine neue, höhere Stufe zu heben.Seit dem Gipfelbeschluss sind aber schon nahezu drei Monate vergangen, und obwohl die Zeit drängt, ist noch immer unklar, wann und in welcher Form der Recovery Fonds startklar ist. Denn das von den Regierungschefs fein ausbalancierte Paket muss erst einmal verschiedene Gesetzgebungsakte überstehen, in denen auch das Europaparlament und die 27 nationalen Parlamente eine entscheidende Rolle spielen. Alle Beteiligten haben an der ein oder anderen Stelle Blockade- oder Vetomöglichkeiten, so dass es schon eines diplomatisch perfekten Kompromisses bedarf, um aus dem aktuellen Verhandlungslabyrinth wieder herauszufinden. Ob die Anti-Krisen-Gelder tatsächlich Anfang 2021 fließen können, wie eigentlich beabsichtigt, ist zurzeit noch völlig offen.Das Problem ist so vielschichtig, weil es mehrere parallel laufende Verhandlungs- und Ratifizierungsstränge gibt, die alle im Endeffekt miteinander verbunden sind. Zum einen verhandeln die deutsche Ratspräsidentschaft und das Europäische Parlament seit September den Budgetrahmen der Jahre 2021 bis 2027, mit dem der Wiederaufbaufonds verknüpft wird. Der Knackpunkt: Das Parlament will 15 strategisch wichtige EU-Programme finanziell aufstocken, die vom Gipfel zum Teil drastisch gekürzt worden waren. Es geht hier um Themen wie Gesundheit, Forschung und Entwicklung oder Jugendaustausch. Eigentlich möchte niemand die Büchse der Pandora wieder öffnen und noch einmal über das Gesamtvolumen des Budgets reden. Aber mehr als unverbindliche Taschenspielertricks bei der Verbuchung von Kartellstrafen, Finanzierungskosten oder des Entwicklungsfonds lagen bisher nicht auf dem Tisch.Die eigentlichen Verhandlungen um den Wiederaufbaufonds laufen hiervon getrennt. Hier geht es um die genauen inhaltlichen Vorgaben für die Projekte, die der Fonds finanzieren soll, und um Kontrollmöglichkeiten. Beides ist einigen EU-Staaten – allen voran aus Ost- und Südeuropa – ein Dorn im Auge. Das EU-Parlament spielt in den Verhandlungen deshalb eine entscheidende Rolle bei der Frage, ob der Wiederaufbaufonds tatsächlich zu einem Modernisierungsschub in Europa und einer Stärkung von Digitalisierung und Klimaschutz führen kann. Es geht ja darum, Fehlallokationen zu vermeiden. Das viele Geld, das die EU-Kommission an neuen Schulden aufnimmt, darf nicht einfach in den nationalen Budgets versickern. Dass Staaten, die in der aktuellen Krise dringend auf die Milliarden aus Brüssel warten, mittlerweile unruhig werden, ist gut zu verstehen. Aber in diesem Punkt geht Qualität eindeutig vor Schnelligkeit.Ein dritter paralleler Verhandlungsstrang betrifft die Einführung eines Rechtsstaatsmechanismus. Es ist wohl das Problem mit der größten Sprengkraft, das im Zuge des Finanzpakets noch gelöst werden muss. Zuletzt hatte in dieser Woche Polen ein grundsätzliches Veto gegen den Wiederaufbaufonds angekündigt, wenn die Auszahlung von EU-Geldern mit der Einhaltung grundlegender demokratischer Standards – von der Unabhängigkeit der Justiz bis hin zur Pressefreiheit – verknüpft wird. Für andere EU-Länder und vor allem für das Parlament gilt dieser Punkt aber als überlebenswichtig für die gesamte EU. Kassieren, aber ansonsten auf die Einhaltung von Werten und Regeln pfeifen? Auch dies unterhöhlt die europäische Idee. Für den Wiederaufbaufonds ist schließlich auch noch ein neuer Eigenmittelbeschluss der EU-Staaten nötig. Alle 27 nationalen Parlamente müssen dem noch zustimmen. Aber die Ratifizierungsverfahren haben noch nicht einmal begonnen, weil viele Staaten erst einmal das fertige Gesamtpaket sehen wollen einschließlich aller dazugehörenden Fußnoten. Die eigene kraftvolle Krisenantwort stößt auch innerhalb der Europäischen Union noch immer auf viel Misstrauen.——Von Andreas HeitkerDer Wiederaufbaufonds könnte die EU auf eine neue Stufe heben. Doch Europas Gesetzgeber finden zurzeit keinen Ausweg aus ihrem Verhandlungslabyrinth.——