GASTBEITRAG

Plädoyer für eine grüne Null

Börsen-Zeitung, 12.12.2019 Die schwarze Null ist offenbar noch viel mehr als die im Koalitionsvertrag verankerte haushaltspolitische Leitlinie. Die CDU erhob die schwarze Null kürzlich in den sozialen Netzwerken gar zu ihrem Fetisch. Das war...

Plädoyer für eine grüne Null

Die schwarze Null ist offenbar noch viel mehr als die im Koalitionsvertrag verankerte haushaltspolitische Leitlinie. Die CDU erhob die schwarze Null kürzlich in den sozialen Netzwerken gar zu ihrem Fetisch. Das war vermutlich ein Versuch, sich in Humor zu üben. Aber hinter dem augenzwinkernden Tweet schimmert dennoch die verkrampfte Haltung der großen Koalition durch: dem ursprünglich ethnologischen Begriff des Fetischs (noch ganz ohne sexuelle Konnotation) kommt eine ehrfurchtsvolle Verehrung als heiliges Objekt zu. Ein Infragestellen der im Fetisch vermuteten übernatürlichen Mächte gilt als Sakrileg.Was im Kontext animistischer Religionen an starren Glaubenssätzen noch angehen mag, darf im Bereich pragmatischer Wirtschaftspolitik allerdings keinen Raum haben. Die Verteidiger der schwarzen Null führen gerne das Argument “Generationengerechtigkeit” ins Feld. Ja, sie haben schon recht: die vielen Boomer werden als Senioren die öffentliche Hand teuer zu stehen kommen. Aber das ist nicht alles und vermutlich auch nicht das größte Problem, das wir unseren Kindern und Kindeskindern hinterlassen. Größte ZukunftssorgeOffenkundig hat sich die Problematik Klimawandel bei den Zukunftssorgen ganz nach vorn gedrängt. Nicht nur bei der jungen Generation, die unermüdlich Freitag für Freitag unmissverständlich lautstark darauf hinweist, wo sie wirklich der Schuh drückt. Beim Politbarometer des ZDF gaben Ende November zwei Drittel der Befragten an, sich wegen des Klimawandels “große Sorgen” zu machen. Mit Ausnahme der AfD-Wähler wird diese Sorge mehrheitlich durch Anhänger aller Parteien geteilt. Eine große Mehrheit findet, die Bundesregierung tue hier “zu wenig”.Derzeit überbieten sich Europaparlament und Kommission in klimapolitischen Großankündigungen. Straßburg hat einen “Klimanotstand” ausgerufen. Ursula von der Leyen stellt einen billionenschweren Green Deal für Europa vor und fordert darüber hinaus eine drastische Verschärfung der CO2-Emissionsziele. Selbst die EZB eruiert, welchen Beitrag sie innerhalb ihres Mandats leisten kann.In Berlin hingegen gibt man sich in Gestalt des sogenannten Klimapakets bleierner Erstarrung hin. Dabei ist Deutschland klimapolitisch zum europäischen Schmuddelkind verkommen. Öffentliche Umweltschutzausgaben machten nach Eurostat-Daten aus 2016 in Deutschland nur wenig mehr als 0,3 % des BIP aus (gegenüber 0,5 % in der EU insgesamt). Zugleich hat Deutschland den Ausstoß an Treibhausgasen pro Kopf zwischen 2007 und 2017 nur um 6,6 % reduziert. Nur Estland, Polen und Lettland waren noch schlechter. Während jeder Deutsche 2007 noch 114 % des EU-Durchschnitts an Treibhausgasen erzeugte, waren es zehn Jahre später schon 128 %. Weiter so?Die Bedingungen für eine klimapolitische Investitionsoffensive könnten eigentlich besser nicht sein. Alles passt: Das Geld ist da, die Wähler sind willig, und die Wirtschaft schwächelt. Dazu müssen auch neue Schulden erlaubt sein, denn Maßnahmen gegen die Aufheizung des Planeten kommen vor allem nachfolgenden Generationen zugute. Wie aus Schwarz Grün wirdWie lassen sich starre Budgetregeln lockern, ohne ein Einfallstor für Begehrlichkeiten aller vorstellbaren Partikularinteressen zu öffnen? Der Staat könnte sich dazu verpflichten, jährlich mindestens 1 % des BIP für Klimaschutz auszugeben. Dieses Prozent für die Jahrhundertaufgabe Klima wird ausdrücklich vom Schuldenverbot befreit. Diese Privilegierung hilft, Klimainvestitionen bei der nächsten Rezession vor diskretionären Ausgabenkürzungen zu bewahren. Das 1-Prozent-Ziel ist von der Größenordnung her ähnlich den von den Grünen geforderten jährlichen 30 Mrd. Euro Klimaschutzinvestitionen. Das prozentuale Ziel hat aber zwei taktische Vorteile gegenüber einer absoluten Zahl, so rund sie auch sein mag.Zum einen ist 1 % ungleich griffiger. Welcher Wähler kann sich schon etwas unter 30 Mrd. Euro vorstellen? Prozentziele brennen sich schneller in das Bewusstsein ein. Das macht sie sichtbar, zäh und beharrlich und bietet Bestandsschutz über Legislaturperioden hinweg. Man denke nur an die 2 % des BIP Verteidigungsausgaben als Nato-Ziel. Oder die Marke von 0,7 % für die offizielle Entwicklungshilfe, ein Zielwert, der nunmehr schon ein halbes Jahrhundert gilt. Von den Maastricht-Schulden- und -Defizitgrenzen ganz zu schweigen.Des Weiteren lässt sich ein Prozentziel einfacher multilateral umsetzen. Wenn von der Leyen es ernst meint mit dem Green Deal, dann müssen alle Mitgliedstaaten erhebliche finanzielle Anstrengungen erbringen. Es ist realistischer, sich auf einen singulären Prozentsatz zu einigen, als auf 27 nationale Ziele in Eurobeträgen. Vergleichbarkeit, Demonstrations- und Nachahmereffekte könnten die Ausweitung von klimaschonenden öffentlichen Investitionen über Deutschlands Grenzen hinweg schneller diffundieren lassen.Falls Deutschland diese progressive und populäre Leuchtturmfunktion zum Klimaschutz ergreift, könnten auch Spannungen innerhalb Europas abgebaut werden, die sich allzu häufig an Deutschlands Beharren auf der schwarzen Null entzünden. Und mit ein wenig Glück wird der durch die grüne Null losgetretene Nachfrageschub der Inflation etwas Auftrieb verschaffen und somit zur beschleunigten Beendigung der hierzulande ungeliebten EZB-Zinspolitik führen. Erschöpfte KlimakanzlerinAngela Merkel, die sich früher gerne als Klimakanzlerin bezeichnen ließ, und ihre Kabinettsriege wirken so matt und erschöpft wie das koalitionäre Führungspersonal nach der durchverhandelten Nacht im September beim – vergeblichen – Versuch, gute Stimmung für ihr schmerzvoll entbundenes Klimapäckchen zu schüren. Ob die neue SPD-Spitze die Koalition aus diesem klimapolitischen Dornröschenschlaf wachzuküssen vermag, ist ungewiss. Denn die schwarze Null ist nicht nur ein Fetisch der CDU. Sie ist auch der ihres abgewatschten Finanzministers und Vizekanzlers. Aber zusammen mit dem sich abzeichnenden Klimawiderstand im Bundesrat bietet der Wachwechsel an der SPD-Spitze eine zweite Chance, die es zu ergreifen gilt. Moritz Kraemer, Chief Economic Advisor bei Acreditus in Dubai, zuvor Global Chief Rating Officer bei Standard & Poor’s (S&P)