Premierminister David Cameron kündigt Rücktritt an
Viele Briten rieben sich am Freitagmorgen erstaunt die Augen: Beim EU-Referendum hatten sich entgegen vielen Umfrageergebnissen die Austrittsbefürworter durchgesetzt. Dann ging es Schlag auf Schlag. Premierminister David Cameron kündigte seinen Rücktritt an. Und die schottischen Nationalisten wollen erneut über die Unabhängigkeit abstimmen lassen.Von Andreas Hippin, LondonFür Meinungsforscher wird es in Großbritannien schwer, in Zukunft Gehör zu finden. Beim Referendum über die Mitgliedschaft des Landes in der EU stimmten 51,9 % für den Austritt, 48,1 % für den Verbleib. Eine Umfrage von Yougov hatte kurz nach Schließung der Wahllokale auf eine umgekehrte Stimmenverteilung hingedeutet. Bei den Buchmachern, die von einer ungleich größeren Wahrscheinlichkeit von “Bremain” ausgegangen waren, dürfte die Fehlersuche längst begonnen haben. Die Wahlbeteiligung lag bei 72,2 %. Bürgerwillen respektierenKurz nach Bekanntgabe des Endergebnisses kündigte Premierminister David Cameron seinen Rücktritt an. “Die britischen Bürger haben dafür gestimmt, die Europäische Union zu verlassen, und ihr Wille muss respektiert werden”, sagte Cameron. Am Montag trete das Kabinett zusammen. “Ich werde nächste Woche am Europäischen Rat teilnehmen und die Entscheidung erläutern, die das britische Volk getroffen hat, ebenso wie meinen eigenen Entschluss.” Er werde übergangsweise sein Amt weiter ausüben. Im Oktober findet der Parteitag der Konservativen statt. Dann will Cameron an einen Nachfolger übergeben, der mit der EU verhandeln soll. Aussichtsreichster Kandidat ist der ehemalige Londoner Bürgermeister Boris Johnson, der sich an die Spitze von Vote Leave gesetzt hatte.Wann das EU-Austrittsverfahren eingeleitet wird, ist völlig unklar. Die politisch gut vernetzte Londoner Kanzlei Bircham Dyson Bell geht davon aus, dass Camerons Nachfolger erst dann von Artikel 50 des Lissabon-Vertrages Gebrauch machen wird, wenn das künftige Verhältnis zur EU bereits weitgehend ausgehandelt ist. Bis dahin dürften europäische Gesetze und britische Gesetze, die auf ihnen basieren, einfach weiter Gültigkeit besitzen. Die Ratingagentur Moody’s warnte vor einer langgezogenen Periode der Unsicherheit, die sich auf die Wirtschaftsleistung auswirken wird. Fitch rechnet mit negativen Auswirkungen der Entscheidung für den Brexit auf die Kreditwürdigkeit von Unternehmen aus den meisten Branchen.Bei Labour leiteten unterdessen die Abgeordneten Margaret Hodge und Ann Coffey ein Misstrauensvotum gegen den Parteivorsitzenden Jeremy Corbyn ein. Dieser habe lediglich halbherzig dazu aufgerufen, für den Verbleib zu stimmen. Die Brexit-Befürworter erzielten in den von der Partei dominierten Arbeitervierteln und Armutsregionen von Nordengland und Wales die besten Ergebnisse. Nordiren für Verbleib in EUDas Land ist nach dem Referendum tief gespalten. Die republikanische Sinn Féin nutzt unterdessen die Chance, die Wiedervereinigung Nordirlands mit dem Süden erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Mehr als die Hälfte (56 %) der Nordiren hatte für den Verbleib in der EU gestimmt. Eine Mehrheit für den Anschluss an die Republik Irland gilt allerdings als wenig wahrscheinlich, das Karfreitagsabkommen von 1998 sieht aber die Möglichkeit einer Abstimmung vor.Die schottischen Nationalisten strichen unterdessen heraus, dass sich der hohe Norden mit deutlicher Mehrheit (62 %) für einen Verbleib in der EU ausgesprochen hat, – und zwar in sämtlichen Wahlkreisen – und wollen ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum abhalten. Es sei “demokratisch unakzeptabel”, wenn die Schotten gegen ihren Willen austreten müssen, sagte die Führerin der Scottish National Party, Nicola Sturgeon. Allerdings dürfte es ihr schwerfallen, den Wählern die bei einem EU-Eintritt eines unabhängigen Schottland fällige Einführung des Euro zu verkaufen. Zudem waren sie beim ersten Anlauf daran gescheitert, dass die Wähler wirtschaftliche Verschlechterungen im Falle der Loslösung von Restbritannien befürchteten. Ein deutlich niedrigerer Ölpreis dürfte dafür sorgen, dass diese Ängste stärker geworden sind. Bei der Abstimmung über die EU-Mitgliedschaft gingen – aller Angstmache zum Trotz – vergleichsweise wenige Briten davon aus, im Falle eines Austritts schlechter dazustehen.