„Putin hat Verzweiflung erfasst“
Eduard Steiner.
Herr Illarionow, immer wieder irrt sich die Welt – etwa bei der Wirkung der Sanktionen oder bei der Einschätzung Wladimir Putins. Sie haben als sein Berater lange mit ihm gearbeitet. Hat sich seine Persönlichkeit seither verändert?
Ja und nein. Die Hauptcharakterzüge blieben gleich. Er kalkuliert und handelt rational und zielstrebig, plant jede Aktion sehr genau, denkt alle möglichen Lösungsvarianten durch. Und er ist detailverliebt und holt sich dazu Rat bei den Experten.
Beim Ukraine-Krieg hat er sich aber doch verrechnet, wie auch Joe Biden es formuliert.
Auch hier ja und nein. Viele beurteilen Putin ausgehend von ihrer zivilisierten, demokratischen Gesellschaft. Aber er hat andere Kriterien. Seines Erachtens ist er noch am Siegen. Gewiss, die Kontrolle über die ganze Ukraine hat er nicht erlangt, auch über die Hälfte nicht. Die Ukraine vom Schwarzen Meer abzuschneiden, hält er immerhin noch für möglich. Was er aber schon erzielt hat, ist die Annexion von vier ukrainischen Gebieten. Auch wenn inzwischen von bis zu 90000 Gefallenen die Rede ist, so kann er zynisch berechnend sagen, das sind Bauernopfer, für die er ein Gebiet mit sechs bis sieben Millionen Menschen gewonnen hat. Seit dem Jahr 2000 redet er ja davon, das demografische Problem Russlands lösen zu wollen.
Kommen wir zur Wirtschaft: Der Internationale Währungsfonds (IWF) erwartet nun nur noch ein Minus von 3,4% für das russische Bruttoinlandsprodukt 2022 statt wie bisher 6%. Und für 2023 minus 2,3 statt 3,5%. Worin haben wir uns in der negativen Bewertung bisher geirrt? Schauen wir auf die falschen Kennzahlen?
Gut, dass Sie diese Frage stellen. Denn man sagt ja gern, Putin hat sich geirrt, die eigenen Fehler will aber niemand eingestehen. Die größte Fehleinschätzung der meisten war, die Integration Russlands in die Weltwirtschaft zu überschätzen. Die Integration ist einseitig auf Öl- und Gaslieferungen konzentriert. Und da hat Russland aufgrund der hohen Preise seit Kriegsbeginn mindestens gleich viel verdient wie davor. Hier läuft also alles weitgehend wie gehabt. Aber es gibt eine drohende Katastrophe, die Putin kennt und über die er nicht reden will, weil sie gefährlich für ihn ist. Und die auch im Westen kaum wer sieht oder kennt.
Und der wäre?
Der Zustand der Gold- und Währungsreserven. Hier geht eine Katastrophe für Putin vor sich, die sich sehr dynamisch entwickelt. Die Reserven sind in den siebeneinhalb Monaten des Krieges offiziell um 16% geschrumpft. Das ist allein schon schlimm. Aber das ist nur das halbe Bild.
Erklären Sie uns das ganze.
Am 18. Februar, sechs Tage vor Kriegsbeginn, betrugen die Reserven 643,2 Mrd. Dollar. Seither sind sie um 102,5 Mrd. Dollar geschrumpft, was die besagten 16% ergibt. Aber diese Rechnung enthält noch nicht die circa 300 Mrd. Dollar, die durch die westlichen Sanktionen eingefroren wurden und über die Russland nicht verfügen kann. Demnach hatte Russland schon zu Kriegsbeginn nur noch 343 Mrd. Dollar an liquiden Reserven zur Verfügung. Zieht man nun die 102,5 Mrd. ab, so bleiben nun nur noch 240 Mrd. Dollar – ein Minus von 30%!
Das Geld floss in den Krieg?
Nun, die 102,5 Mrd. Dollar decken sich weitgehend mit den Kriegsausgaben, die der Kreml angibt. Was muss man aber daraus schließen? Hätte der Westen zu Kriegsbeginn nicht die 300 Mrd. Dollar eingefroren, hätten die russischen Reserven für 47 Kriegsmonate gereicht. Putin hat also wohl mit vier Jahren Krieg gerechnet. Durch die Sanktionen reichen sie aber nur für gut zwei Jahre und jetzt nur noch für 17 oder 18 Monate. Dazu kommt als Problem, dass ein Teil der verbliebenen Reserven Sonderziehungsrechte beim IWF sind, die nicht so leicht verwendet werden können. Und 130 Mrd. Dollar, also mehr als die Hälfte, sind in Gold angelegt, auf dessen Verwendung auch Sanktionen bestehen – der Verkauf würde sich also schwer gestalten und ginge nur mit Preisabschlägen. Kurz: Die Reserven reichen also real nur noch für gut ein Jahr.
Gesetzt den Fall, es sind keine Reserven mehr da. Was dann?
Wenn die russische Zentralbank den Menschen, die ihre Rubel ja in Dollar tauschen wollen, keine Dollar mehr anbieten kann, beginnen eine Währungskatastrophe und ein Bank Run. Und wenn die Banken zusammenbrechen, kann auch die Wirtschaft im Nu einbrechen, was jeden Krieg beenden kann. Die Dollareinnahmen aus dem Öl- und Gasverkauf wären ja da, aber die Ausgaben durch den Krieg sind enorm gestiegen. Und mehr Öl und Gas kann Russland auch nicht exportieren, zumal jetzt westliche Exportbeschränkungen wirksam werden.
Putin könnte Geld beschaffen, indem er Steuern erhöht, Konzerne wie Gazprom mit Sonderdividenden auspresst, wie er das bereits macht, oder Staatsanleihen emittiert.
In allen drei Fällen würde er zwar zusätzlich Rubel bekommen, denn im Krieg wird er Anleihen im Ausland nicht platzieren können. Die Rubel aber gibt er aus, und die wirtschaftlichen Akteure wollen für die Rubel wieder Dollar. Putin bräuchte mehr Dollar – nicht nur, um Waren in der Welt zu kaufen oder seine Diplomaten im Ausland zu bezahlen, sondern auch um die Balance zwischen Rubel und Dollar im Land zu halten. Andernfalls drohen Rubelabwertung, Inflation und der oben beschriebene Bank Run, bei dem die Nachfrage nach Dollar den Rubel noch mehr abstürzen ließe. Und das kann letztlich zu einer politischen Katastrophe führen. Genau diese Entwicklung fürchtet Putin, und genau diesem Schreckensszenario nähern wir uns an. In einer Kriegssituation sind die Gold- und Währungsreserven ein weitaus wichtigerer Indikator als die Wirtschaftsleistung, auf die alle schauen.
Was lässt Putins Persönlichkeitsstruktur als Reaktion auf die schwindenden Reserven erwarten? Wird er unberechenbarer?
Man braucht nichts mehr erwarten, es ist ja bereits gut sichtbar. Putin hat eine Reihe aggressiver Maßnahmen gesetzt, die Referenden, die Teilmobilmachung, der Terror mit den Bombardierungen, die aggressive Rhetorik gegenüber dem Westen im Verbund mit der nuklearen Erpressung. Es ist die Folge einer Verzweiflung, die Putin erfasst. Er will den Krieg mit einer Verschärfung beenden.
Der Geldmangel wird aber wohl nicht der einzige Grund dafür sein?
Es gibt noch zwei andere Gründe. Der eine ist die Erkenntnis, dass der Zermürbungskrieg, auf den er zwischen Ende März und Ende August gesetzt hat, nicht nur finanziell auf Dauer nicht machbar ist, sondern dass der Verlust an Kriegstechnik hochgeschnellt ist. Hatte das Verhältnis von ukrainischen zu russischen Verlusten im Schnitt seit Februar 1:4 betragen und zwischenzeitlich sogar fast 1:1, so zuletzt seit Ende August 1:8 – zu Ungunsten der Russen. Und das, obwohl Russlands Bevölkerung viermal so groß ist wie die ukrainische.
Und der zweite Grund, den Zermürbungskrieg aufzugeben?
Das Verhalten von China. Im Februar konnte Putin mit China noch eine „umfassende strategische Partnerschaft“ unterzeichnen. Und er hat darauf gebaut. Und man muss sagen: Hätte China wirklich geholfen, wäre das Schicksal der Ukraine besiegelt gewesen. Aber das machten sie nicht, obwohl Putin alle Monate über seine Emissäre nach Peking geschickt hat. Deshalb hat Putin so sehr auf das erste persönliche Treffen mit Chinas Staatschef Xi Jinping seit Kriegsbeginn am 15. September im usbekischen Samarkand gebaut. Xi aber hat ihm sowohl die wirtschaftliche als auch die militärische Hilfe verweigert. Und jetzt distanziert sich China auch diplomatisch. Der Kreml hat in seiner Pressemitteilung noch von der strategischen Partnerschaft gesprochen. Xi hingegen sagte, die strategische Partnerschaft beschränke sich auf Telefonkontakte und bestehe konkret im Sport, in der Kultur, im Kontakt einzelner Provinzen und einzelner Bürger. Wenn sich Putin also wo total verschätzt hat, dann bei China. Chinas Distanzierung ist für ihn ein Schlag unter die Gürtellinie.
Was ist die Folge?
Putin will den Krieg auf Teufel komm raus schnell beenden. Deshalb erhöht er mit der jetzigen Eskalation überall den Einsatz, um eine Tauschmasse bei den Verhandlungen für eine mehr oder weniger akzeptable Vereinbarung – in der Art von Minsk 3 oder Istanbul 1 oder sonst wie – zu haben. Er versucht, die Ukraine, Europa und die USA einzuschüchtern, um sie zu einer Verhandlungslösung zu bewegen. Und Sie sehen ja bereits die Reaktionen im Westen – angefangen vom Papst über Elon Musk oder den ungarischen Präsidenten Viktor Orbán, die auf einen Friedensschluss drängen. Auch Joe Biden geht Putin auf den Leim, indem er von einem drohenden Armageddon sprach. Nur Großbritanniens Premierministerin Liz Truss sagte, dass man auf Atomraketen mit Atomraketen reagieren werde. So hätte der ganze Westen antworten müssen. Putin will ein Treffen mit Biden erzwingen, denn letztlich ist er der wichtigste Entscheider im Westen.
Sagen Sie uns noch kurz: Wer in Russland hat noch den größten Einfluss auf Putin?
Chinas Präsident Xi. Er ist einflussreicher als die gesamte Umgebung Putins in Moskau zusammengenommen. Das hat der Westen noch nicht verstanden.
Und innerhalb des Moskauer Establishments?
In Sachen Militär- und Geopolitik entscheidet er das Wichtigste selbst.
Hat der so genannte Wirtschaftsblock überhaupt noch etwas zu sagen?
Doch, denn er gewährleistet ja das Funktionieren der Kriegswirtschaft und der Geopolitik, wie Putin sie will. Am einflussreichsten und wichtigsten ist und bleibt Zentralbankchefin Elvira Nabiullina. Sie ist keine dumme Frau, hält das Zentralbank- und Währungssystem ziemlich in Ordnung. Auf sie hört Putin. In Sachen Geopolitik hat sie natürlich nichts mitzureden, das ist dann der Bereich der Hardliner.
Wie muss man sich jetzt die Atmosphäre im Kreml vorstellen? Herrscht Chaos? Verwerfungen? Angst?
Es herrscht ganz sicher kein Chaos. Alle arbeiten diszipliniert weiter und führen Putins Aufträge aus. Aber bei allen nehmen die Angst und die Verzweiflung zu, was passieren wird, wenn es nicht gelingt, eine Einigung mit dem Westen zu finden. Alle wissen, dass nur Putin eine solche Einigung hinkriegen kann. Daher wird es auch keinen Umsturz geben.
Und wenn er diese Einigung nicht schafft?
Dann ist das das Ende des Regimes. Ökonomisch und politisch. Und da alle von Putin abhängen, würden alle mit Putin untergehen.
Das Interview führte