LEITARTIKEL

Quadratur der Integration

Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise nimmt die Regulierung der europäischen Finanzmarktinfrastruktur neue Fahrt auf. Als Katalysator gilt der überraschende Ausgang des Brexit-Referendums vor gut einem Jahr. Daraus entstanden ist nicht nur ein...

Quadratur der Integration

Zehn Jahre nach Ausbruch der Finanzkrise nimmt die Regulierung der europäischen Finanzmarktinfrastruktur neue Fahrt auf. Als Katalysator gilt der überraschende Ausgang des Brexit-Referendums vor gut einem Jahr. Daraus entstanden ist nicht nur ein Gerangel um die EU-konforme Umsiedlung von Finanzdienstleistungen. Auch stehen womöglich einschneidende Änderungen der Regularien im Bereich der Nachhandelsdienstleistungen an. Hier hält das Prinzip Einzug, dass die Regulierung anders aussehen soll, wenn eine Infrastruktur in der von der Europäischen Zentralbank kontrollierten Währungsunion betrieben wird. Doch es gab schon vor dem Brexit das Ansinnen, die Aufsicht über die europäischen Finanzmärkte zu zentralisieren und zu harmonisieren. Damit sollen die Bedingungen geschaffen werden, die jenen effizienten und hochliquiden Kapitalmarkt in der Europäischen Union hervorbringen, welchen sich die Staatengemeinschaft im Jahr 2000 mit der Lissabon-Strategie mit auf die Fahne geschrieben hat.Die Realität sieht bislang anders aus, die Kapitalmarktintegration gleicht schon lange der Quadratur des Kreises. Jahr für Jahr legt die EZB pflichtbewusst einen Bericht vor, der kaum Beachtung findet und zeigt, wie es um die finanziellen Integrationsfortschritte in der Eurozone bestellt ist. Nicht gut, nicht erst seit dem Brexit. Nach quantitativen Kriterien sei die Integration heute in etwa so fortgeschritten wie vor 14 Jahren, heißt es. Um komplett integriert zu sein, müsste sich der aktuelle Wert verdreifachen – was erahnen lässt, wie viel noch zu tun wäre.Nun lässt sich einwerfen, eine engere Verzahnung der Finanzmärkte sei nicht unbedingt wünschenswert oder nötig. Vielfalt belebt bekanntlich das Geschäft und ermöglicht einen Wettbewerb um bessere Lösungen. Das Risiko sinkt, dass ein Marktdesign nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner umgesetzt wird und besondere, lokal gewachsene Kompetenzen in Frage stellt. Die legitime Diskussion, wie viel Integration sinnvoll ist, findet auch Nahrung durch die fortschreitende Digitalisierung und neue Prozesse, die etwa auf der Blockchain basieren. In den technologieaffinen Kreisen französischer Akteure wird schon einer Dezentralisierung das Wort geredet, auch vor dem Hintergrund des Brexit. Wenn sich der riesige Firmenkundenmarkt der Banken in London nach dem Brexit auf verschiedene Standorte aufteile, sei dies dank geringerer Kosten für die Anbindung der Handelsteilnehmer eher unproblematisch, ist aus Paris zu hören. Nur zur Verdeutlichung: Laut der Brüsseler Denkfabrik Bruegel liegen in London ca. 90 % des europäischen Marktes.Stimmt die Annahme einer Tendenz zur Dezentralisierung, ist aber umso mehr ein einheitlicher Rahmen nötig, der auch einheitlich durchgesetzt wird, um eine Desintegration des europäischen Finanzmarktes zu verhindern. Nach der Schaffung der Währungsunion, dem Aufbau der Bankenunion sowie der Einführung der europäischen Zahlungsabwicklungs- und Wertpapierabwicklungssysteme Target2 und Target2Securities (T2S) sind weitere Schritte nötig. Einige Vorschläge liegen dazu liegen bereits auf dem Tisch. Die EZB untermauert zugleich mit neuen Initiativen, dass sie den Weg der Integration über den Betrieb weiterer, von ihr angestoßener Dienstleistungen gehen will.Noch viel wichtiger wäre aber, dass der Brexit für die restliche EU ohne Großbritannien als einmalige Chance wahrgenommen wird. Also als Möglichkeit, den noch recht schmalbrüstigen kontinentalen Kapitalmarkt zu stärken. Dass in der Debatte über Marktinfrastrukturregulierung jetzt mehr auf Geschäfte in Drittstaaten geachtet als über Verbesserungen im eigenen Haus nachgedacht wird, ist bedauerlich. Der Bogen droht damit überspannt zu werden. Besser sollten grundsätzliche Themen angegangen werden, die den Markt auch international stärken, wie eine einheitliche Wertpapiergesetzgebung und namentlich die Harmonisierung steuerlicher Aspekte in der Wertpapierabwicklung. Die öffentliche Hand könnte so unterstreichen, dass sie ernsthaft gewillt ist, einen einheitlichen Rahmen zu schaffen.Dies dürfte auch private Integrationsinitiativen anregen, von denen bislang wenig zu sehen ist, mit Ausnahme der gescheiterten Fusion von Deutsche Börse und London Stock Exchange. Der Weg ist unbequem, aber lohnt sich. Eigeninteressen und lukrative Nischen müssten aufgegeben werden. Öffentliche und private Anstrengungen zusammen könnten aber das hehre Ziel eines effizienteren Kapitalmarkts erreichen. ——–Von Dietegen MüllerNur öffentliche und private Anstrengungen zusammen können das hehre Ziel eines effizienteren Kapitalmarkts in Kontinentaleuropa erreichen.——-