IM INTERVIEW: RENE HERMANN

Rating-Experte spricht Deutschland Vorbildfunktion ab

Züricher Independent Credit View betrachtet die Berliner Wirtschaftspolitik skeptisch und rät vom Nachahmen ab

Rating-Experte spricht Deutschland Vorbildfunktion ab

René Hermann von der schweizerischen Ratingagentur Independent Credit View, spricht Deutschland eine Vorbildfunktion ab. Das Land investiere trotz niedriger Zinsen und hoher Steuereinnahmen zu wenig, etwa in Bildung und Infrastruktur. – Herr Hermann, den Bunds haben Sie in der Vergangenheit nicht immer ein Spitzenrating gewährt, jetzt schon. Gleichwohl besorgt Sie aktuell eine Überhitzung des deutschen Immobilienmarktes. Welche weiteren Risiken sehen Sie noch?Neben dem Immobilienmarkt sehen wir beispielsweise Eventualrisiken wie etwa durch den Kapitalschlüssel beim europäischen Rettungsschirm ESM, welche das Rating belasten. Aber auch das Bankensystem in Deutschland müsste eigentlich in besserer Verfassung sein. Die tiefe Profitabilität und strapazierte Kreditqualität einzelner Institute erlauben kaum Platz für Fehler, sollte sich die Konjunktur verschlechtern oder eine Korrektur am Immobilienmarkt abzeichnen.- Deutschland ist die stärkste Kraft in Europa, an welchen deutschen Schwächen könnten sich andere Eurozonen-Länder anstecken?Über alle hausgemachten Probleme der Eurozonen-Länder hinaus: Viel wäre schon erreicht, wenn andere Länder sich nicht an deutschen Kuriositäten wie der “Energiewende” orientierten. Wer in Zeiten hoher Steuereinnahmen und tiefer Zinsen nicht den Anspruch hat, entweder Staats- und Steuerquote zu senken oder produktive Investitionen in Bildung und Infrastruktur zu tätigen, kann kein Vorbild sein. Und ganz praktisch liegt aus kreditanalytischer Perspektive auf der Hand, dass eine schwächere Nachfrage in der deutschen Investitionsgüter- und Automobilindustrie aufgrund der länderübergreifenden Wertschöpfungsketten zu Wachstums- und Beschäftigungseinbußen in West- wie in Mitteleuropa führen wird. Auf solche Szenarien ist mit politischer Weitsicht und Größe zuzugehen und nicht mit bürokratischer Obrigkeitshörigkeit gegenüber Brüssel. Zumal viele Staaten in Osteuropa mit ähnlichen demografischen Herausforderungen wie Überalterung, niedrige Geburtenraten, überdimensionierte, teuren Renten- und Sozialsystemen konfrontiert sind.- In Ihrer Länderstudie bezeichnen die USA als “prominentestes und gewichtigstes Beispiel” für Staaten, die Ausgaben prozyklisch steigern. Was genau meinen Sie damit?Präsident Donald Trump gibt dem Wachstum mehr Priorität als der Gesundheit des Staatshaushalts. Das haben aber schon viele Präsidenten vor ihm getan und das gehört zum natürlichen Verhalten in der Politik, wo die Popularität und letztendlich die Wiederwahl im Fokus stehen. Aus Sicht des Kreditanalysten ist jedoch ein antizyklisches Verhalten lieber gesehen. Das heißt konkret: Wenn die Wirtschaft brummt und die Arbeitslosigkeit niedrig ist, ist es der ideale Zeitpunkt, die Mehreinnahmen dazu zu verwenden, die Schulden zurückzufahren. In den USA wird aber weiterhin mehr ausgegeben als eingenommen und es werden Steuergeschenke gemacht, welche eigentlich gar nicht notwendig wären.- Und das birgt Risiken?Verliert die Wirtschaft ihren Schwung und fällt in eine Rezession, dann hat die Regierung nur einen beschränkten Spielraum, um die Wirtschaft anzukurbeln. Verschärft wird die eskalierende Schuldensituation in den USA durch die Rückabwicklung der quantitativen Lockerung. Der Schuldendienst wird teurer, wenn die Zinsen steigen und ein immer größerer Teil des Staatshaushalts wird für den Schuldendienst absorbiert. Die verfügbaren Mittel des Staates für produktive öffentliche Investitionen, beispielsweise in Bildung, Infrastruktur und Innovation gehen verloren.- Wo liegen die Gefahren des steuerpolitischen Kurses der USA – für das Land selbst und für die Weltwirtschaft?Die Steuerpolitik führt zu Ungleichgewichten, welche nicht nur eine nächste Krise herbeiführen, sondern diese auch unnötig verlängern können. Die Erholung von der letzten Krise war bereits langsam und beschwerlich und unter den aktuellen Voraussetzungen ist das Land alles andere als gewappnet. Die Steuerreduktionen schmälern die Einnahmebasis der Regierung und treiben die Schulden weiter in die Höhe. Das Verhältnis Staatsverschuldung zu Wirtschaftsleistung liegt bereits über 100 % und steigt weiter an. Hohe Schulden können zu einem rasanten Zinsanstieg führen, wenn sich plötzlich Bedenken über die Fähigkeit des Landes, die Schulden zu bedienen, im Markt verbreiten. Im Falle der USA könnte man sich auch einen Inflationsschub oder die Abwertung der Währung als Resultat des steuerpolitischen Kurses vorstellen. Dies würde das Vertrauen von Investoren erschüttern und sich negativ aufs Wachstum auswirken.- Mit globalen Auswirkungen?Als größte Wirtschaftsmacht der Welt beeinträchtigt eine Abschwächung des Wachstums in den USA über die globalen Wertschöpfungsketten die gesamte Weltwirtschaft. Die Ratingagenturen führen stets an, dass der Dollar als Reservewährung einen gewaltigen Wettbewerbsfaktor darstellt. Die Tatsache, dass wichtige Rohstoffe in Dollar abgerechnet werden und dass die US-Notenbank Fed bei Bedarf die Geldpresse anwerfen kann, gilt es nicht zu unterschätzen. Aber auch diese Vorteile sind irgendwann ausgereizt und dann besinnen sich die Investoren wieder auf die Fundamentaldaten, was sich negativ auf die Nachfrage nach US-Treasuries und die Währung auswirken dürfte.- Glauben Sie, dass das US-Beispiel Schule macht?So weit kommt es nicht, denn wie bereits die Türkei, Argentinien und Italien erfahren durften, hat sich die disziplinierende Wirkung des Zinses zurückgemeldet. Investoren schauen sich die Kreditrisiken wieder genauer an und agieren entsprechend selektiv. Für stark verschuldete Staaten mit erratischer Fiskalpolitik dürfte die Luft somit wieder dünner werden. Konkret fordern die Märkte von Staaten mit hohen Schulden und politisch wackeligen Verhältnissen eine höhere Risikoprämie als von Staaten mit niedriger Verschuldung und vorausschauender Haushaltsplanung.- Dann macht aber Italien alles falsch.Nicht ganz. Italien hat einmal mehr eine dysfunktionale Regierung, welche ebenfalls im Wahlkampf viel versprochen hat und erst verspätet realisiert hat, dass sich die Versprechen mit klammen Kassen nicht realisieren lassen. Die Parallele ist, dass populistische Regierungen, sei es in Europa oder den USA, lieber Geld ausgeben als den Gürtel enger schnallen. Italien hat bisher vermieden, die notwendigen Reformen einzuleiten und durchzuziehen.- Was muss in Italien geschehen?In Italien bringen sich die Koalitionsparteien in Stellung für mögliche Neuwahlen. Der Konfrontationskurs mit der EU war programmiert. Ein Austritt aus dem Euro kommt kaum in Frage. Das wäre für Italien aber auch die EU ein Desaster. Ich kann mir aber gut vorstellen, dass Italien der EU gewisse Konzessionen abringen möchte.- Das ist für die Eurozone jetzt aber auch keine gute Nachricht.Fakt bleibt, dass Italien, aber auch einige andere Staaten der Währungsunion nie hätten beitreten dürfen. Was ursprünglich als Kleister angedacht war, um die Staaten näher zusammenzubringen, wird immer mehr zur Sollbruchstelle. Es könnte darauf hinauslaufen, dass Italien nach griechischem Vorbild ebenfalls Zinserleichterungen anstrebt. Ob Europa bereit ist, einmal mehr die Grundlagen der Währungsunion aufzuweichen oder neu zu interpretieren, wird sich herausstellen. Auch die Fähigkeit, Italien unter die Arme zu greifen, ist anzuzweifeln. Mit dem ESM steht zwar ein Vehikel zur Unterstützung bereit, aber es bedürfte wahrscheinlich zusätzlicher Hilfe seitens internationaler Institutionen.- Ihre Länderstudie geht kaum auf die andauernden Handelskonflikte, insbesondere zwischen den USA und China, ein. Sehen Sie da keinen Grund zu Sorge?Wir haben in den Länderstudien in den vergangenen Jahren immer wieder auf das disproportionale Kreditwachstum in China aber auch der Türkei hingewiesen. Durch den Handelsstreit werden in China Probleme, welche bisher erfolgreich von der Regierung kontrolliert wurden, unberechenbarer. Wir hegen seit Jahren große Skepsis, was die Datenqualität angeht. Staatsschulden aber auch Schulden der Haushalte – primär bei den Banken im Staatsbesitz – dürften in der Realität um einiges höher ausfallen als offiziell angegeben. Die Schulden der Unternehmen sind auch mit Vorsicht zu genießen, da die offiziellen Agenturen mit hoher Wahrscheinlichkeit die Unterstützung durch den Staat miteinbeziehen.- Ist dann ein seriöses Rating überhaupt möglich?Wir sind beim Einbezug von solch flüchtigen Faktoren zurückhaltend und das ist in unseren Ratings abgebildet. Ein eskalierender Handelsstreit birgt zudem die Gefahr einer Konjunkturabschwächung. Nicht nur ob der direkten, materiellen Auswirkungen, sondern eher wegen der Unsicherheit, welche beispielsweise den Aufschub von Investitionen zur Folge haben würde.- Welche Gefahren gehen von China aus?Ein schwächeres chinesisches Wachstum, der weltweit zweitgrößten Volkswirtschaft, schlägt sich direkt und indirekt auf eine Vielzahl von Ländern nieder. Eine anhaltende Abkühlung der chinesischen Wirtschaft hat nicht nur negative Konsequenzen für Rohstoffnationen wie Australien, sondern betrifft auch Automobilhersteller und Zulieferer in Deutschland sowie die Tourismus-, Uhren- und Maschinenindustrie in der Schweiz. Zusätzlich hätte das Platzen der Kreditblase große negative Auswirkungen auf die globalen Finanzmärkte.—-Die Fragen stellte Archibald Preuschat.