IM INTERVIEW: PAUL TUCKER

"Reden allein macht nichts besser"

Der Ex-Vizechef der Bank of England über die Gefahr einer neuen Weltfinanzkrise, die Grenzen der Geldpolitik, die Zukunft Europas und die Herausforderung Brexit

"Reden allein macht nichts besser"

– Herr Tucker, in Kürze jährt sich der Beginn der Weltfinanzkrise zum 10. Mal. Wie groß ist die Gefahr, dass es in den nächsten drei bis fünf Jahren zur nächsten globalen Finanzkrise kommt?Das Risiko ist sicher nicht vernachlässigbar. Es gibt in der Weltwirtschaft immer noch erhebliche Schwachstellen wie die Bruchlinien in den institutionellen Grundlagen der Eurozone oder das Kreditwachstum in China. Weltweit ist die Verschuldung heute höher als vor der Krise. Angesichts dieser und anderer verbliebener Schwachstellen sollte auch nicht vergessen werden, dass die Weltwirtschaft Pech haben kann: Nach einigen Jahren mit stetigem Wachstum ist nicht auszuschließen, dass es in den nächsten zwei bis drei Jahren wieder einmal eine Rezession gibt. Das zählt, weil das herausstechendste Merkmal im aktuellen Umfeld ist, dass im Gegensatz zu Anfang 2009 sehr viel weniger makroökonomisches Arsenal vorhanden ist: Die Zinsen könnten von den aktuellen oder voraussichtlichen Niveaus nicht mehr viel weiter gesenkt werden, und mit wenigen Ausnahmen gibt es weniger Spielraum für die Fiskalpolitik, den Volkswirtschaften über Schwierigkeiten hinwegzuhelfen.- Sind die Probleme heute also sogar noch größer als vor 2007?Das würde ich nicht sagen. Große Teile des Bankensystems sind heute viel besser kapitalisiert als damals. Und insoweit die Verschuldung gestiegen ist, ist es auch so, dass davon heute mehr in den öffentlichen Bilanzen steckt; und falls die Wirtschaft von einem Schock getroffen wird, haben Regierungen generell mehr Spielraum als der Privatsektor, Laufzeiten zu verlängern und so die Ausgaben zu glätten. Es gibt aber einen Zusammenhang zur Debatte über ein Zurückrollen der Finanzregulierung. Wie das Systemic Risk Council bereits früher in diesem Jahr gesagt hat, sind das nun Umstände, in denen Finanzintermediäre noch widerstandsfähiger sein müssen – und nicht weniger. Als wir nach 2009 die Basel- und andere Reformen kalibriert haben, hatten wir keine Welt im Sinn, in der die Zinsen immer noch bei null liegen und einige Zentralbanken immer noch im Notfallmodus sein würden.- Das heißt, wir brauchen mehr Regulierung, nicht weniger? In den USA setzt Präsident Donald Trump auf Deregulierung.Was ich sage, bedeutet nicht unbedingt mehr und mehr Regeln. Ich plädiere nicht für Komplexität. Aber es wäre sicher ein sehr schwerer Fehler, die Widerstandsfähigkeit im Finanzsystem oder die neuen Instrumente zurückzudrehen, die helfen, mit zusammengebrochen Banken und Händlern umzugehen ohne Eigenkapitalhilfen durch den Steuerzahler.- Was ist denn aus Ihrer Sicht aktuell das größte Risiko für die Weltwirtschaft und das Finanzsystem?Es ist schwer, eine Rangliste aufzustellen. Was die weltweiten Folgen betrifft, wäre ein Zusammenbruch der Eurozone wohl der härteste Schlag. Es gibt einige Reformen, aber die Grundlagen sind immer noch schwach. Ohne Druck durch eine aktuelle Krise haben sich die Politiker Zeit nehmen wollen. Aber ich würde sagen, dass viele auf der wirtschaftlichen Seite besorgt sind, dass sich die Politik nicht sicher sein kann, das Tempo kontrollieren zu können.- Was ist denn am dringendsten?Es geht um zwei Dinge gleichzeitig: Auf der einen Seite brauchen eine Reihe Euro-Länder flexiblere Märkte, da ohne eigene Währung die Last der Anpassung von der Realwirtschaft getragen werden muss. Das ist sicher nicht einfach, weil es einigen Menschen wehtun kann. Woran ich denke, sind Dinge wie, dass es einfacher wird, ein Geschäft zu starten, dass es einfacher wird für einen Unternehmer oder ein etabliertes Unternehmen, ohne Stigma zu scheitern – ein großer Vorteil des US-Systems -, und dass es einfacher wird, eine Arbeit zu finden.- Und was ist das andere?Auf der anderen Seite gilt: Eine Währungsunion, die keine effektiven Mechanismen hat, Risiken über Grenzen hinweg zu verteilen, ist schrecklich anfällig. In Deutschland provozieren solche Aussagen tendenziell Sorgen vor Transferzahlungen vom Norden in den Süden. Aber ich habe mich oft gefragt, ob die meisten Deutschen wissen, dass es ein bedingtes Transfersystem bereits gibt, das bei einer Pleite greifen würde. Das ist das Targetsystem der Zentralbanken, und jede Währungsunion hat solch ein System per Definition. Aber die Diskussion muss auch nicht nur über öffentliche Transfers gehen. Was es jetzt braucht, ist eine ambitionierte Kapitalmarktunion. In den USA werden große Teile der Risiken über die Kapitalmärkte geteilt, was bedeutet, dass das bepreist wird und vom Privatsektor getragen wird. Das wäre für den Euroraum sehr hilfreich.- Die Kapitalmarktunion kommt aber nur sehr schleppend voran.Ich sehe mit Sorge, dass das Projekt als eine lange Liste technischer und regulatorischer Themen betrachtet wird und das Risiko besteht, dass die größere Rechtfertigung jenseits der Spezialisten übersehen oder nicht verstanden wird: Es geht darum oder es sollte darum gehen, eine effektive Wirtschafts- und Währungsunion aufzubauen. Ich hoffe, dass die europäischen Spitzenvertreter das viel klarer machen. Vielleicht irre ich mich, aber ich kann mir vorstellen, dass das auch für Deutschland interessant sein könnte: Ein Risikotransfer über die Märkte ist fast schon eine ordoliberale Lösung.- Braucht es auch einen Euro-Finanzminister und ein Euro-Budget?Es steht mir nicht zu, mich in das Design der europäischen Institutionen einzumischen. In der Vergangenheit habe ich für eine Art kollektive Versicherung gegen ökonomische Katastrophen argumentiert. Es geht nicht darum, die Anreize für einige Mitgliedstaaten zu reduzieren, ihre Arbeitsmärkte zu reformieren, um die erschreckend hohe Arbeitslosigkeit zu senken. Es könnte aber ökonomisch sinnvoll sein, jede exzessive Belastung abzufedern und gemeinsam zu tragen, wenn ein Land durch eine Krise viel stärker getroffen wird als andere und die Arbeitslosigkeit weit über das hinaus steigt, was in einem Zyklus normal ist. Das ist das, was nationale Währungsräume tun.- Wie sehr ist die ultralockere Geldpolitik selbst ein Risiko für die Finanzstabilität? Nicht zuletzt die Zentralbank der Zentralbanken BIZ warnt vor den Gefahren.Eine anhaltend expansive Geldpolitik birgt ohne Frage Risiken. Aber das bedeutet nicht, dass die Zentralbanken, um zu verhindern, dass die Verschuldung steigt und es zu Übertreibungen im Finanzsystem kommt, einfach ihr Inflationsziel vergessen und zulassen können, dass die Inflation immer weiter unterhalb des Zielwerts sinkt. Solange sie nicht zu dem Schluss kommen, dass die mittelfristige Preisstabilität durch die geldpolitische Haltung gefährdet ist, würde es gegen das Recht und die demokratisch erteilten Mandate verstoßen, wenn sie eine kurzfristige Schwäche hinnehmen würden. Was die Zentralbanker aber angesichts der von Ihnen erwähnten Risiken tun können und vielleicht öfter tun sollten ist, dass sie auf eine straffere Regulierung dringen. Im aktuellen Umfeld sollten die Banken mehr Eigenkapital vorhalten müssen.- Die Banken sagen, dass sie dann weniger Kredite vergeben könnten, was das Wachstum belaste.Das Argument überzeugt mich überhaupt nicht. Starke Banken vergeben Kredite und schwache tun das nicht. Schauen Sie doch, was passiert ist: Die USA haben als Erste ihren Bankensektor aufgeräumt und die Wirtschaft hat sich dort am schnellsten erholt. In Großbritannien sind wir 2012/2013 allmählich rigoroser geworden und das hat der Wirtschaft geholfen. In einigen Ländern der Eurozone sind die Probleme dagegen bis heute nicht angegangen worden. Seit wie vielen Jahren wird über die Non-Performing Loans gesprochen? Reden allein macht aber nichts besser. Es geht darum, die Verluste anzuerkennen und wieder Kapital aufzubauen. Das wird nicht leichter, wenn man es immer weiter in die Zukunft verschiebt.- Besteht die Gefahr, dass solche Sorgen um Banken oder die Finanzmärkte geldpolitische Entscheidungen dominieren (“finanzielle Dominanz”) oder auch fiskalpolitische Erwägungen über das Tun der Notenbanker entscheiden (“fiskalische Dominanz”)?Das kann niemals ausgeschlossen werden. Das ist ein Grund, warum das Design von Institutionen so wichtig ist. Zentralbanken könnten keine anhaltend lockere Geldpolitik beibehalten, nur weil das Bankensystem schwach ist. Es wäre fast das schlimmste Szenario, wenn die Zentralbanken zu Gefangenen schwacher Banken werden.- Alles in allem finden Sie es aber richtig, dass die Zentralbanken sehr vorsichtig sind bei der Normalisierung der Geldpolitik?Was ich sage ist, dass die Zentralbanken ihren Inflationsvorhersagen entsprechend agieren müssen, dem mittelfristigen Ausblick und den Unsicherheiten. Wenn die Wirtschaft schwach ist und die Inflationsvorhersage unterhalb des Zielwerts bleibt, wäre es richtig, eine expansive Geldpolitik zu haben. Wenn die Vorhersage ist, dass die Inflation zurück Richtung Zielwert oder gar darüber steigt, verschiebt sich die Politik dahin, die Unterstützung allmählich zu entziehen.- Auch einige Notenbanker finden, nach Jahren mit Inflationsraten unterhalb von 2 % sei es angebracht, die Inflation auch einmal “überschießen” zu lassen – ähnlich der Idee der Preisniveausteuerung.Davon halte ich nichts. Erstens: Die Zentralbanken verfolgen keine Preisniveausteuerung, sondern eine Inflationssteuerung. Sie können ihr Mandat und Rahmenwerk nicht ohne angemessene öffentliche Debatte ändern. Abgesehen davon, während jene, die für Preisniveausteuerung argumentieren, in der Theorie gute Argumente haben, glaube ich, dass es schwer würde, das gegenüber der Öffentlichkeit zu kommunizieren, so dass die Menschen verfolgen könnten, ob die Zentralbank tut, was sie sagt. Die Inflationssteuerung in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten ist gelungen, vor allem deshalb, weil sie verständlich ist, was in der heutigen Zeit viel zählt. Die Zentralbanken sollten das jetzt nicht aufs Spiel setzen.- Wie denken Sie über die aufgeblähten Zentralbankbilanzen? Ist das Teil der “neuen Normalität”?Wenn die Zeit gekommen ist, sollten die Zentralbanken ihre Bilanzen wieder reduzieren. Sie sollten nicht dauerhaft solche großen Bilanzen haben. Das verzerrt den Preissetzungsmechanismus und behindert so auch das Funktionieren der Finanzmärkte. Hinter solchen Überlegungen einer “neuen Normalität” steckt die Idee, dass das Trendwachstum kollabiert ist und dass das, was der Gleichgewichtszins genannt wird, deutlich gesunken ist. Ich habe da so meine Zweifel. Aber selbst wenn es stimmt: Das Wichtige ist, dass das eine Wohlstandskrise wäre, an der die Zentralbank nichts ändern kann. Es wäre an den Politikern, Schritte zu unternehmen, um mit Reformen auf der “Angebotsseite” die Struktur der Wirtschaft zu verbessern. Die Zentralbanken müssen da offen die Grenzen ihrer Fähigkeiten aufzeigen.- Aber viele Notenbanker fürchten sich davor, das öffentlich zu tun.Natürlich ist das heikel. Letztlich aber haben die Zentralbanker drei Möglichkeiten: Erstens können sie über ihre eigenen Grenzen sprechen. Zweitens könnten sie den Politikern sagen, was diese tun sollen. Drittens könnten sie so tun, als könnten sie für mehr Wohlstand sorgen. Die dritte Option ist die schlechteste, weil das nicht stimmt und sie schnell überführt würden. Die zweite Option ist heikel und kann mittel- und langfristig Probleme bergen, auch für die Unabhängigkeit. Damit bleibt nur die erste Option. Die Zentralbanken müssen klarmachen, dass sie nicht die Lösung für alle Probleme sind. Im Idealfall führt das vielleicht zu einem besseren öffentlichen Verständnis und zu Druck auf die Politik.- Viele Beobachter halten die US-Notenbank aktuell für zu vorsichtig, andere dagegen für zu forsch. Was ist Ihre Einschätzung?Wenn Sie mich fragen, die Fed macht bislang einen guten Job. Ich hätte an ihrer Stelle vielleicht ein wenig früher begonnen, die Zinsen zu normalisieren. Aber darauf würde ich nicht zu viel Gewicht legen. Im aktuellen Umfeld ist es für eine Zentralbank extrem schwierig, genau den richtigen Moment für die Wende zu erwischen. Das richtige Jahr zu erwischen wäre schon sehr gut. Die Chance, dass sie über den Normalisierungszyklus hinweg alles richtig hinbekommt, tendiert gegen null. Auch die Fed wird Fehler machen und die einzige Frage ist: Werden das Fehler sein, die der Wirtschaft richtig wehtun – weil sie zu viel oder zu wenig tut? Das sehe ich im Moment nicht. Ich glaube aber, dass 2017 ein Schlüsseljahr für die US-Wirtschaft und die Weltwirtschaft wird.- Inwiefern?Es scheint mir unwahrscheinlich, dass es in den USA noch große freie Kapazitäten am Arbeitsmarkt gibt. Wachstum in den USA im Jahr 2017 und danach würde im Grunde von einer verbesserten Produktivität kommen müssen. In der westlichen Welt war in den vergangenen Jahren das Produktivitätswachstum schwach. Wir verstehen immer noch nicht genau, warum das so war und ist. Die USA werden aber jetzt zum ersten Testfall, ob sich das Produktivitätswachstum wieder erholen kann.- Für wie groß halten sie die Gefahr eines Konflikts zwischen der Fed, die auf die Bremse tritt, und Präsident Trump, der das Wachstum ankurbeln will?Wenn die Fed sicherstellt, dass der Inflationsdruck ausbalanciert ist, ist das der beste Beitrag, den sie für die US-Wirtschaft leisten kann. Mit anderen Worten: Unabhängige Zentralbanken sollten an ihrem gesetzlichen Auftrag festhalten. Die Politik kann natürlich das Mandat ändern oder die Unabhängigkeit abschaffen. Aber solange das nicht passiert, müssen die Zentralbanken tun, womit sie beauftragt sind. Im Übrigen ist das auch der Grund, warum es besser ist, wenn die Politiker das Ziel der Zentralbank vorab definieren und nicht die Zentralbank selbst. So wie ich es sehe, ist das eine Schwäche des Systems in den USA und im Euroraum.- Weil die Fed und die Europäische Zentralbank (EZB) selbst definiert haben, was sie unter Preisstabilität verstehen?Ja, genau. Wenn die Politiker das Ziel setzen, hilft das zu unterstreichen, dass die großen Entscheidungen vom demokratischen Teil der Regierung getroffen werden und das Ermessen der Zentralbanker begrenzt ist.- Bei der EZB kommt hinzu, dass auch nicht klar ist, was “unter, aber nahe 2 %” genau bedeutet.In Großbritannien hatten wir in den 1990er Jahren, als die Bank of England unabhängig wurde, ein großes Verlangen nach einem symmetrischen Ziel, das klarmacht, dass ein Unterschreiten genauso schlecht ist wie ein Überschreiten. Wir wollten nicht als Inflationsverrückte abgestempelt werden. Und wir wollten ein eindeutiges Ziel. Wenn ein Notenbanker in einem Gremium 1,8 % anstrebt und ein anderer 2,2 %, ist es kein Wunder, dass es Unterschiede gibt in der Einschätzung, was zu tun ist. Das wollten wir vermeiden.- Wie schätzen Sie die aktuelle EZB-Politik ein? Der Euroraum ist zuletzt stärker gewachsen als die USA, aber die EZB hält an ihrer ultralockeren Geldpolitik fest.Sie ist da viel näher dran als ich! Ich denke, dass das Lohnwachstum im Euroraum recht gedämpft war. Die EZB spricht deshalb eher mehr über den Arbeitsmarkt, was Sinn macht. Wie gesagt, am Ende muss immer der Inflationsausblick entscheidend sein. Das sollte aber der Ausblick der Zentralbanker selbst sein und nicht der Mitarbeiter der Zentralbank.- Die Bank of England prognostiziert Inflationsraten von mehr als 2 %, hält aber auch still. Beobachter spekulieren zunehmend, dass es keine Straffung gibt vor Abschluss der Brexit-Verhandlungen 2019. Wäre das angemessen?Ich habe da keine besonderen Einblicke. Angesichts der starken Abwertung des britischen Pfunds wäre ein zeitweiser Anstieg der Inflation zu erwarten. Man kann durch so etwas als Einmaleffekt hindurchschauen. Während der Krise hatten wir wegen eines Ölpreisschocks 5 % Inflation und hielten trotzdem an einem starken Stimulus fest, weil der Inflationsanstieg im Wesentlichen ein Einmaleffekt war. In einem solchen Umfeld ist es dann entscheidend, dass die mittel- und langfristigen Inflationserwartungen im Bereich des Zielwerts verankert bleiben. Wenn sich die Wirtschaft weiter erholt, wird es aber zweifellos irgendwann Zeit, die geldpolitische Unterstützung zurückzufahren. Ich sehe überhaupt keinen Grund anzunehmen, dass sich die britische Wirtschaft in großen Schwierigkeiten befindet.- Diese hatten viele Beobachter aber für den Fall vorausgesagt, dass sich die Briten für den Brexit entscheiden. War das überzogen?Wissen Sie, kurzfristige Vorhersagen sind immer extrem schwierig. Was langfristig für die britische Wirtschaft zählt, sind auch ganz andere Faktoren: Bildung, die Fähigkeiten der Erwerbsbevölkerung, eine etwas bessere Balance in der Wachstumsstruktur mit etwas mehr Handel und Investitionen und etwas weniger privatem und öffentlichem Konsum.- Aber kann der Brexit noch zum Problem für die Wirtschaft werden?Langfristig gibt es viel wichtigere Faktoren als den Brexit, die für die Weltwirtschaft und damit auch für die britische Wirtschaft entscheidend sind – auch wenn das natürlich kurzfristig die Stimmung beeinflusst. Wenn sich etwa in den USA 2017 und danach die Produktivität erholt, würde das die gesamte Weltwirtschaft verwandeln. Wenn das nicht passiert und das Produktivitätswachstum weiter stagniert, werden wir indes alle sehr nervös werden.Ganz ähnlich gilt: Wenn die Eurozone auf starke Grundlagen gestellt wird, wären die Risiken für alle geringer.- Wie groß schätzen Sie die Gefahr ein, dass es am Ende zu einem ungeordneten Ausscheiden kommt?Ich sehe keine große Gefahr eines katastrophalen Vakuums und das sind alles erwachsene, erfahrene Leute. Für mich ist aber ohnehin etwas anderes entscheidend: Der Horizont für die Diskussion über das neue Verhältnis sollte 15 bis 20 Jahre sein. Bis dahin werden Länder wie China und vielleicht Indien und andere wahrscheinlich noch mächtiger sein. Mit gemeinsamen Interessen in Sicherheit und regionalem Wohlstand werden wir auch ein breites, gemeinsames Interesse haben, dass die Werte unseres Teils der Welt an den Tischen der globalen Macht repräsentiert werden. Ein gutes Verhältnis zwischen der EU und Großbritannien würde es einfacher machen, das zu erreichen. Das ist ein Grund, warum ich nach dem Brexit-Votum zusammen mit einer Gruppe anderer empfohlen habe, was wir eine kontinentale Partnerschaft nennen.- Die würden wie genau aussehen?Meines Erachtens steuert Europa über einen unbekannten Zeithorizont auf ein System konzentrischer Kreise zu: mit einem inneren Kreis einschließlich der Währungsunion; womöglich mit einem mittleren Kreis von EU-Mitgliedsländern, die den Euro nicht eingeführt haben, obwohl sie vertragliche Verpflichtungen haben, das zu tun, sobald sie können – weswegen es schwer ist, abzusehen, wie das langfristig aussieht; und mit einem äußeren Kreis von Nicht-EU-Mitgliedsländern mit weniger Integration und weniger Beteiligung an der Entscheidungsfindung, engerer Einbeziehung bei wichtigen geopolitischen Themen wie Sicherheit und mit gewissen Handelsbeziehungen. Da wäre dann Platz für Großbritannien. Ich bin relativ überzeugt, dass es langfristig so etwas kommen wird. Ich habe keine Idee, wie lange das dauert oder wie schwierig das wird.- Und die jüngsten Spannungen zwischen London, Berlin und Brüssel über “Austrittsrechnungen” und misslungene Abendessen lassen da wenig Gutes vermuten?Das sind alles Erwachsene in London, Berlin, Brüssel und Paris, und am Ende sind sie alle ihren Bürgern gegenüber verantwortlich. Deswegen bin ich nicht zu besorgt über tägliche Zeitungsgeschichten. Es geht um harte Verhandlungen, aber – darauf vertraue ich – nicht um Bestrafung. Großbritannien muss eine neue Beziehung zur EU finden, aber keine feindliche. Auf der anderen Seite argumentieren einige in Europa, dass die EU gegenüber London hart sein muss, damit nicht andere dem Vorbild folgen. Europa zu einem konstitutionellen Gefängnis zu machen ist aber kein Weg, um den langfristigen Erfolg des Projekts Europa sicherzustellen.—-Das Interview führte Mark Schrörs.