LEITARTIKEL

Requiem für einen Traum

Bis zur ersten Hochrechnung aus der Londoner BBC-Zentrale hatte man noch hoffen dürfen, dass die Briten sich die Sache mit dem EU-Austritt noch einmal überlegen werden. Bis zuletzt versuchten Anti-Brexit-Organisationen, ihre Anhänger gegen die...

Requiem für einen Traum

Bis zur ersten Hochrechnung aus der Londoner BBC-Zentrale hatte man noch hoffen dürfen, dass die Briten sich die Sache mit dem EU-Austritt noch einmal überlegen werden. Bis zuletzt versuchten Anti-Brexit-Organisationen, ihre Anhänger gegen die Regierung zu mobilisieren. Der erdrutschartige Sieg von Boris Johnson bei der Wahl vom Donnerstag zeigt jedoch, wie groß die Unterstützung in der Bevölkerung dafür ist, den Handelsblock zu verlassen. Damit ist sicher, dass eines der wirtschaftlich stärksten Länder der EU im kommenden Jahr aus freien Stücken den Rücken kehren wird. Es ist das Ende des Traums von der europäischen Einheit, auch wenn man das in anderen europäischen Hauptstädten noch nicht so sehen mag.Das Vereinigte Königreich steht vor einem politischen Wandel, dessen Ausmaß man nicht unterschätzen sollte. Viele der Abgeordneten, die den Eindruck erwecken wollten, für eine vom Brexit enttäuschte schweigende Mehrheit zu sprechen, werden dem neu gewählten Parlament nicht mehr angehören. Der ehemalige Speaker John Bercow, den der Privatsender Sky als Kommentator für die Wahlnacht angeheuert hatte, schien den Tränen nahe, als die Ergebnisse einliefen. Die von Channel 4 für diesen Anlass verpflichteten Comedy-Sternchen schauten recht betreten drein.Labour galt linken Sozialdemokraten auf dem Kontinent bis vor kurzem noch als Vorbild, lieferte der Aufstieg der Partei, der nun ein jähes Ende fand, doch ein Modell für ihren Traum vom Comeback der westeuropäischen Sozialdemokratie. Dafür sah man über den Antisemitismus der Führung hinweg, der immer wieder durchschimmerte. Das schlechteste Ergebnis seit 1935 ist jedoch vor allem die Quittung dafür, aus taktischen Erwägungen heraus keine klare Position zum Brexit bezogen zu haben. Es ist wenig wahrscheinlich, dass sich Labour bis zum nächsten Wahltermin ausreichend erholt, um ernsthaft die Machtfrage stellen zu können. Johnson hat also gleich doppelt gewonnen. Dabei half auch das arrogante Vorgehen der Liberaldemokraten, deren Parteichefin Jo Swinson bereits als Großbritanniens nächste Premierministerin die Klinken putzen ging, schließlich aber nicht einmal ihr Mandat im Unterhaus zurückerobern konnte. Nur eine Koalition der EU-Austrittsgegner hätte Johnson bei dieser Wahl Einhalt gebieten können. Dafür war man sich jedoch allseits zu fein. Die Einzigen, die außer den Konservativen hinzugewannen, waren Nationalisten. Die Chefin der schottischen Regionalregierung fordert bereits ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum.Johnson verdankt seinen Sieg nicht der liberalen urbanen Elite, die spätestens seit dem Wahlsieg von Tony Blair in der britischen Politik den Ton angab. Er schaffte es mit Hilfe des Vote-Leave-Strategen Dominic Cummings, in Regionen zu punkten, die sich vom Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie nie erholt haben. Für ihn stimmten diejenigen, die vom metropolitanen Bildungsbürgertum mit einer gewissen Häme als Modernisierungsverlierer bezeichnet werden, diejenigen, die der Meinung sind, nichts mehr zu verlieren zu haben. Dabei kam ihm zugute, dass Labour vor einigen Jahren von der linken Sekte Momentum übernommen wurde, deren Forderungen den Bewohnern der klassischen Arbeiterviertel im englischen Norden kalte Schauer über den Rücken jagen.Für offene Grenzen wird sich keiner einsetzen, in dessen Wahrnehmung die Zuwanderung seine ganze Lebenswirklichkeit innerhalb kürzester Zeit auf den Kopf stellt. Das soll keinesfalls bedeuten, dass man in North Yorkshire fremdenfeindliche Einstellungen pflegt. Aber Johnsons Idee, die Zuwanderung auf ähnliche Weise zu regeln wie in Australien – mit Hilfe eines Punktesystems – fand dort offene Ohren. Man fand sie zumindest glaubwürdiger als die Versprechungen Corbyns, die Viertagewoche einzuführen und kostenlos Breitbandanschlüsse, Busfahrkarten und Studienplätze zur Verfügung zu stellen. Will Johnson seine neuen Wähler halten, muss er eine Politik machen, die sie nicht länger ignoriert. Das bedeutet eine weitere Sozialdemokratisierung der Tories, die sich seit dem Abtritt von Margaret Thatcher ohnehin Schritt für Schritt in die politische Mitte bewegt haben. Es bedeutet aber auch, dass man sich in Brüssel warm anziehen muss, denn Johnson hat nicht nur eine überwältigende Mehrheit der Abgeordneten im Unterhaus hinter sich. Die Wähler, die ihm dazu verholfen haben, sind beim Thema EU am kompromisslosesten.——Von Andreas HippinDas Vereinigte Königreich steht vor einem politischen Wandel, dessen Ausmaß man nicht unterschätzen darf. In Brüssel sollte man sich warm anziehen.——