EUROPA HAT DIE WAHL

Richtungsentscheidung für die EU

Nach den Krisen der vergangenen Jahre kommt es auf die Zusammensetzung des neuen EU-Parlaments an

Richtungsentscheidung für die EU

Heute in einem Monat, am 26. Mai, steigt in Deutschland die Europawahl. Nach den Krisen und Kämpfen der vergangenen Jahre geht es um eine Richtungsentscheidung über die weitere Entwicklung Europas. Die Börsen-Zeitung nimmt in den nächsten vier Wochen in einer Serie die Wahlprogramme der Parteien unter die Lupe und stellt die deutschen Spitzenkandidaten vor. Dazu gibt es weitere interessante Einblicke zur Wahl sowie zur Lage und Zukunft Europas.Von Andreas Heitker, BrüsselDie europäische Welt ist heute eine andere als noch vor fünf Jahren bei der bislang letzten Wahl zum Europaparlament. Denn seither hatte Griechenland 2015 für einen neuen Höhepunkt in der Staatsschuldenkrise gesorgt, hatte die Migrationskrise im gleichen Jahr zu tiefer Verunsicherung in der Bevölkerung und heftigem Streit zwischen den EU-Staaten geführt und hatte 2016 das Brexit-Votum der Briten die Union bis ins Mark getroffen. In der Zwischenzeit war Donald Trump US-Präsident geworden, wurden populistische Bewegungen auch innerhalb der EU immer stärker und war Europa immer wieder von terroristischen Attacken getroffen worden. Und seit der letzten Wahl zeigen sich zudem tiefe Ost-West-Risse. Erstmals musste gleich in mehreren Mitgliedstaaten über die Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit diskutiert werden.Dass die anstehende Europawahl angesichts dieser Situation als Richtungs- oder gar als Schicksalswahl eingestuft wird, verwundert wenig. Die Kompetenzen des EU-Parlaments sind zwar begrenzt. Doch spielt das Abgeordnetenhaus als Co-Gesetzgeber ebenso eine bedeutende Rolle wie bei der Wahl der nächsten Kommission oder auch der Aufstellung des künftigen EU-Finanzrahmens. Ein nicht richtig funktionierendes oder wenig konstruktiv arbeitendes Parlament könnte zudem viel Sand in das ausbalancierte europäische Institutionen-Gefüge streuen. Für Jean Asselborn ist auch deshalb klar: “Die anstehenden Wahlen werden die mitunter wichtigsten seit der Gründung Europas sein.” Dies sagte Luxemburgs Außenminister kürzlich in einem Interview.”Zum ersten Mal seit der Premiere vor 40 Jahren schaut die Welt – und auch der Kapitalmarkt – bei einer Europawahl sehr genau hin”, betont auch Frank Engels, Leiter Portfoliomanagement bei Union Investment. “Es geht um viel, auch wenn es nicht unmittelbar den Anschein haben mag.” Was Engels meint: Die Ereignisse der vergangenen Jahre, zu denen er auch die Italienwahl zählt, haben in der Wirtschaft Zweifel an der Langlebigkeit des europäischen Einigungsprozesses gesät. Für viele Investoren sei es mittlerweile nicht mehr selbstverständlich, dass die Integration erstens immer weitergehe und zweitens unumkehrbar bleibe, sagt er.Auch in der Bevölkerung ist ein deutlich höheres Interesse spürbar als vor fünf Jahren – auch wenn nationalen Wahlen weiter eine höhere Bedeutung beigemessen wird. Laut einer neuen Umfrage des EU-Parlaments sagten bereits Anfang März zwei Drittel der Deutschen, sie würden “wahrscheinlich” oder sogar “sehr wahrscheinlich” wählen. Angesichts der Beteiligungen bei den letzten Wahlen, die regelmäßig und zum Teil deutlich unter der 50-%-Marke blieben, ist dies bemerkenswert. EU-Skeptiker bündeln KräfteEuropaweit lag die Wahlbeteiligung 2009 und 2014 bei lediglich 43 %. In Osteuropa – Polen, Tschechien, der Slowakei, Slowenien, Ungarn und Kroatien – gaben noch nicht einmal 30 % der Wahlberechtigten ihre Stimme ab. Auch dies könnte sich im Mai ändern.Einer neuen Analyse der Bertelsmann Stiftung zufolge könnte die Europawahl zugleich aber auch eine Antihaltung vieler Europäer offenbaren. “Sie könnten im Mai mehrheitlich gegen statt für einzelne Parteien stimmen”, so die Autoren der Studie, die heute genauer vorgestellt wird. So zeigten sich die Anhänger der extremen und europakritischen Ränder stärker mobilisiert als die noch etwas wahlmüde politische Mitte, hieß es. “Dies könnte das Wahlergebnis prägen und die Bildung positiver Mehrheiten im neuen EU-Parlament erschweren.”Gerade das Abschneiden der populistischen, nationalistischen und EU-skeptischen Parteien wird bei der Europawahl im Fokus stehen. Aktuelle Prognosen sehen diese Gruppierungen, die im aktuellen Parlament noch auf drei Fraktionen verteilt sind, bei gut 23 % (siehe Grafik).Neben der Anzahl der Abgeordneten wird aber auch entscheidend sein, wie es den bisher eher fragmentiert auftretenden Populisten und EU-Kritikern gelingen wird, nach der Wahl ihre Kräfte zu bündeln, um so ihren Einfluss auf die europäische Politik noch zu erhöhen. Hinter den Kulissen finden hierzu schon längst Gespräche statt. Schon vor knapp drei Wochen hatten etwa die deutsche AfD, die italienische Lega sowie zwei skandinavische Parteien eine Zusammenarbeit beschlossen.Ob Lega-Chef Matteo Salvini persönlich die große Brüsseler Bühne sucht und sich etwa als italienischer EU-Kommissar aufstellen lässt, wird sich zeigen. Deutsche-Bank-Analyst Kevin Körner verweist auf jeden Fall darauf, dass durch die EU-Wahl zwar “keine tektonische Verschiebung der Mehrheiten” zu erwarten sei, die zu einer dramatisch veränderten Agenda führen werde. Aber der Stil des politischen Dialogs und die Rhetorik werde wohl populistischer.