Richtungswahl zwischen Coronakrise und Klimawandel
Von Mark Schrörs, Frankfurt
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) als größter und einflussreichster Unternehmerverband in Deutschland hat bereits im August scharfe Kritik am Bundestagswahlkampf geübt. Es fehlten die Inhalte und die Parteien würden sich – zumal „angesichts der gewaltigen Herausforderungen“, vor denen Deutschland stehe – zu viel mit „Nebensächlichkeiten“ aufhalten. Zumindest allzu viel hat sich an diesem Eindruck bis kurz vor der Bundestagswahl nicht geändert: Gerade die Wirtschaft und ihre Themen spielen allenfalls eine untergeordnete Rolle.
Das ist durchaus paradox: Die Bundestagswahl wird von vielen Seiten immer wieder zur „Richtungswahl“ erklärt. Und das gilt ganz sicher auch in wirtschaftspolitischen Belangen: Union und FDP stehen zweifellos für eine ganz andere Steuer-, Finanz- und Wirtschaftspolitik als die SPD und die Grünen – oder gar Die Linke. Zudem sind die Herausforderungen tatsächlich so groß wie selten – Stichworte: Coronakrise, Klimawandel oder auch Digitalisierung. Aber eine wirkliche inhaltliche Auseinandersetzung findet auch wegen der entpolitisierenden Zuspitzung auf die einzelnen Kandidaten kaum statt.
Die größte, unmittelbare Herausforderung ist sicher weiter die Corona-Pandemie. Die Krise ließ die deutsche Wirtschaft im Jahr 2020 nicht nur nach zehn Jahren Wachstum in Folge erstmals wieder schrumpfen. Das Minus von 4,6% beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) markierte neben jenem von 2009 (–5,7%) infolge der Weltfinanzkrise sogar den stärksten Rückgang seit der deutschen Wiedervereinigung. Mehr als eine Million Jobs gingen 2020 verloren – trotz Kurzarbeitergeld.
Inzwischen hat sich die deutsche Wirtschaft zwar deutlich erholt. Die Industrieländerorganisation OECD prognostiziert jetzt für dieses und nächstes Jahr 2,9% und 4,6% Wachstum (siehe Grafik). Bereits im Sommer oder aber im Herbst des laufenden Jahres könnte die deutsche Wirtschaft ihr Vorkrisenniveau erreichen, schätzt die Bundesbank. Zudem stellen sich die Unternehmen zunehmend auf die „neue Normalität“ nach beziehungsweise mit Corona ein. Ein neuerlicher Komplett-Lockdown erscheint aktuell unwahrscheinlich, auch wenn Deutschland beim Impfen vielen Nachbarländern hinterherhinkt.
Ganz überwunden ist die Krise aber noch nicht – wie nicht zuletzt die Ausbreitung der Delta-Variante vor Augen führt. Die Politik steht deshalb vor der schwierigen Entscheidung, wie lange sie an welchen Stützungsmaßnahmen festhalten will. In der Coronakrise hat die Bundesregierung die umfangreichsten Finanzhilfen in der Geschichte der Bundesrepublik beschlossen. Allein das im Juni 2020 aufgelegte Konjunkturprogramm belief sich auf rund 130 Mrd. Euro. Damit hat sie ganz wesentlich dazu beigetragen, dass der wirtschaftliche Einbruch nicht noch dramatischer ausfiel.
Die Kehrseite dieses Erfolgs ist, dass dadurch die staatliche Verschuldung deutlich angestiegen ist. 2020 legte sie auf 69,8% des BIP zu. Im Jahr zuvor hatte sie nach einem sukzessiven Rückgang seit 2013 bei nur 59,6% gelegen. Für die nächsten Jahre geht das Bundesfinanzministerium von einem weiteren Anstieg aus (siehe Grafik). Wie problematisch das ist und wie schnell gegengesteuert werden muss, ist eine der zentralen Fragen für die neue Bundesregierung. Einiges dürfte sich nach der Krise von selbst regeln – durch Wachstum. Ein Selbstläufer wird die Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen aber mutmaßlich nicht.
Darüber hinaus steht die künftige Bundesregierung vor immensen strukturellen Herausforderungen. Das gilt insbesondere für den Kampf gegen den Klimawandel. Nach neuen EU-Beschlüssen und einem Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat die scheidende Regierung das Klimaziel für 2030 verschärft: Mindestens 65% Treibhausgase sollen gegenüber 1990 eingespart werden. Auf die erforderlichen neuen oder verschärften Instrumente konnte sie sich aber nicht mehr verständigen. Die Denkfabrik Agora Energiewende forderte im Wahlkampf zusammen mit der Stiftung Klimaneutralität, dass sich das Tempo beim Klimaschutz mindestens verdreifachen müsse.
Erst vor wenigen Tagen sorgte IG-Metall-Chef Jörg Hoffmann mit der Aussage für Aufsehen, dass beim Wandel zu einer klimaneutralen Wirtschaft ohne Planungssicherheit für die Industrie und die Beschäftigten „weit mehr als 100000 Jobs in Gefahr“ seien. „Die künftige Bundesregierung muss mit den richtigen politischen Maßnahmen den Weg in ein klimaneutrales Innovations- und Investitionsjahrzehnt beschreiten und das empfindliche Gleichgewicht zwischen Ökologie, Ökonomie und Sozialem im Blick behalten“, fordert der BDI. Welche Maßnahmen das konkret sein sollen, ist aber umstritten – genau wie die Frage, wie viel der Staat vorgeben soll und wie viel der Markt von selbst regeln kann.
Eine weitere Mammutaufgabe ist die Digitalisierung – zumal Deutschland in Sachen digitale Wettbewerbsfähigkeit während der Corona-Pandemie weiter zurückgefallen ist. Laut einer aktuellen Untersuchung des Berliner European Center for Digital Competitiveness (ECDC) verlor die Bundesrepublik im vergangenen Jahr weiter an Boden. Bezogen auf die Entwicklung, reichte es nur für den vorletzten Platz in Europa: Schlechter schnitt nur Albanien ab. Ursächlich für den Rückfall Deutschlands waren den Forschern zufolge vor allem Defizite im digitalen Ökosystem. „Es wird zwar viel über Digitalisierung gesprochen“, sagt Studienleiter Philip Meissner, „aber es passiert zu wenig“.