Staatsschulden - die Mär vom Münchhausen-Effekt

Auch nach dem Ökonomensturz Rogoff/Reinhart spricht alles für die Beibehaltung der Konsolidierungspolitik

Staatsschulden - die Mär vom Münchhausen-Effekt

Von Stephan Lorz, FrankfurtÜber viele Jahre scherten sich viele Ökonomen nur wenig um die steigenden Schuldenstände vieler Industriestaaten. Schließlich, so die Einschätzung, könne man ja aus der miserablen Lage wieder herauswachsen. Notfalls müsse die Notenbank eine höhere Inflation zulassen. Das entschuldet den Staat sukzessive. Als dann die beiden Star-Ökonomen Kenneth Rogoff und Carmen Reinhart von der Elite-Universität Harvard auf der Basis historischer Daten die damit belegte These aufstellten, dass ab einer Staatsschuld von 90 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) das Wachstum drastisch einbrechen wird, waren die Experten aufgeschreckt. Mit “Herauswachsen” geht es dann nicht mehr.Umso größer nun die Erleichterung für Gegner einer strikten Austeritätspolitik wie den Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman, dass die Berechnungen von Rogoff und Reinhart offenbar krasse Fehler enthielten. Das jedenfalls behaupten Thomas Herndon, Michael Ash und Robert Pollin von der Universität von Massachusetts. Sie haben die Modelle nachgerechnet und sind zu dem Schluss gekommen, dass eine Schuldenquote von mehr als 90 % die Wirtschaft nicht automatisch schrumpfen lässt. Zwar ist eine Wachstumsabschwächung feststellbar. Aber sie spielt sich danach in der Nachkommastelle ab – ist insofern also kaum signifikant. “Ich habe nie an die Ergebnisse geglaubt”, jubelte Krugman in seiner Zeitungskolumne in der “New York Times”. Inzwischen haben Rogoff und Reinhart auch Pannen bei der Dateneingabe in das Computerprogramm Excel eingeräumt.Ist damit die Sparpolitik insgesamt diskreditiert? Schon lange fordern einige Ökonomen eine Lockerung der Konsolidierungsvorgaben für die Krisenländer in der Eurozone. Die Austeritätsanforderungen würden diese nur noch tiefer in die Rezession stoßen und es ihnen unmöglich machen, wieder zum Wachstum zurückzukehren. Eine Verarmung ganzer Staaten sei die Folge.Diese These wird gestützt durch Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF), wonach der sogenannte Fiskalmultiplikator deutlich höher ist als bisher angenommen. Hintergrund: Bislang gingen Volkswirte davon aus, dass Mehrausgaben des Staates nur zur Hälfte wachstumswirksam sind. Der Multiplikator beträgt also 0,5. Nach Angaben des IWF zeigten neuere Daten indes, dass der Zusammenhang deutlich enger geworden ist. Die Ökonomen sehen ihn nun irgendwo zwischen 0,9 und 1,7 liegen. Das würde einer Art Münchhausen-Effekt gleichkommen: Eine Volkswirtschaft könnte sich danach auf Pump am eigenen Schopf aus dem Konjunktursumpf ziehen, steigen die Ausgaben nur hoch genug.Dass dieses Kalkül nicht aufgehen kann, sagt bereits der gesunde Menschenverstand. Hinzu kommen Überlegungen, dass Investoren und Konsumenten in diesen Ländern auf hohe Staatsschulden meist mit Zurückhaltung reagieren oder ihr Geld gleich außer Landes bringen. Obendrein werden Steuererhöhungen erwartet und die Nervosität an den Finanzmärkten nimmt zu – mit der Folge, dass die Zinsen zulegen. Schon diese trüben Aussichten dürften das Wirtschaftswachstum einbrechen lassen und damit den fiskalischen Spielraum der Staaten weiter beschneiden.Eine solche Situation haben die Krisenländer in der Eurozone ja bereits erlebt. Von einer “Todeszone” wurde gesprochen, als die Zinsen in den Bereich von 7 % für einzelne Staaten vorgestoßen waren. Denn das erhöht die Zinslast in den Haushalten sukzessive und macht die Refinanzierung alter Außenstände sowie die Defizitfinanzierung des laufenden Haushalts wegen der Zurückhaltung der Investoren immer schwieriger. Einige Länder flüchteten schon unter den Euro-Rettungsschirm.Auch hier spielt das Verschuldungsvolumen eine zentrale Rolle: Je höher die Schuldenquote, desto mehr sind die Länder dem Gutdünken der Finanzmärkte ausgesetzt. Panikreaktionen können dann ganze Länder in Finanzierungsnot stürzen.Wie stark einzelne Länder inzwischen abhängig geworden sind vom “Finanzklima” an den Märkten, zeigen eine Reihe von Indikatoren wie die im laufenden Jahr anstehenden Finanzierungsvolumina (Refinanzierung plus Defizit). Im Falle Deutschlands sind dies “nur” 8,2 % des BIP. Italien aber muss jährlich Papiere von rund einem Viertel seiner Wertschöpfung den Märkten feilbieten. Beim gegenwärtigen Zinsniveau ist dies vielleicht noch tragbar. Aber verlangen die Investoren über längere Zeit einen höheren Preis für die Bereitstellung ihres Kapitals, schlägt das in Rom unmittelbar auf das Budget durch. Folge: Konsolidierungsziele werden nicht mehr erreicht, das Vertrauen in einen stabilen Haushalt schwindet, Verunsicherung macht sich breit und treibt ihrerseits die Zinsen weiter in die Höhe. Eine aufwärts gerichtete Zinsspirale setzt sich in Bewegung.Wie schnell sich ein höheres Zinsniveau im Schuldendienst niederschlägt, zeigt ein anderer Indikator: die mittlere Laufzeit der ausstehenden Staatsschuldscheine. Je kürzer die ist, desto schneller macht sich ein Klimawechsel an den Märkten im Haushalt bemerkbar.Auch jenseits erwarteter Wachstumswirkungen durch hohe Staatsschuldenstände gibt es also nach wie vor genügend triftige Gründe, dass die betreffenden Länder ihre Konsolidierungsziele beibehalten, womöglich sogar noch straffen, statt nun die Zügel schleifen zu lassen, wie das bereits einige Ökonomen fordern, nachdem Rogoff und Reinhart vom Thron gestoßen worden sind.