LEITARTIKEL

Tanz und Distanz

Der Dax scheint den Weg aus der Coronakrise gefunden zu haben. Von den Tiefständen, auf die der Leitindex in Sorge über desaströse Folgen der Pandemie abgerutscht war, hat sich das Börsenbarometer zuletzt kräftig nach vorne abgestoßen. Fast ein...

Tanz und Distanz

Der Dax scheint den Weg aus der Coronakrise gefunden zu haben. Von den Tiefständen, auf die der Leitindex in Sorge über desaströse Folgen der Pandemie abgerutscht war, hat sich das Börsenbarometer zuletzt kräftig nach vorne abgestoßen. Fast ein Fünftel hat der Index aufgeholt, seit er im März um knapp 40 % unter die zuvor erreichten Höchststände gestürzt war. Die beispiellosen Hilfen, mit denen die Bundesregierung den Unternehmen unter die Arme greift, mildern die Sorge, dass das Virus der mittelständischen Wirtschaftsstruktur das Rückgrat bricht. Verantwortlich für die Zuversicht an den Märkten ist aber vor allem die wachsende Hoffnung, dass die Einschränkungen im Alltag bald gelockert werden könnten und der Wirtschaftskreislauf wieder in Schwung kommt. Um im Bild eines viel zitierten Ausstiegsszenarios aus der Coronakrise zu bleiben, das mit “Hammer und Tanz” überschrieben ist: Der Dax bittet zum Tanz und einige Investoren schwingen schon wieder das Tanzbein.Während an der Börse bereits die optimistischeren Exit-Szenarien eingepreist werden, drückt die Politik auf die Bremse. Noch sei nicht die Zeit, über eine Lockerung der Einschränkungen zu sprechen, die nach Einschätzung der OECD die Wirtschaftsleistung in Deutschland binnen zwei Monaten um 7 % oder rund 240 Mrd. Euro drücken könnten, heißt es gebetsmühlenartig aus dem Bundeskanzleramt und den meisten Staatskanzleien. Der Blick richtet sich auf das Osterwochenende, das mild und frühlingshaft ausfallen dürfte, was den seit bald vier Wochen laufenden Großversuch “soziale Distanzierung” in Deutschland ohnehin auf eine schwere Probe stellt. Die Ostereiersuche im Kreis der Großfamilie droht eine neue Infektionswelle auszulösen. Da will niemand zur Unzeit Entwarnung geben, zumal die jüngsten Zahlen des Robert-Koch-Instituts wieder ein etwas schlechteres Bild zeichnen.Die Reproduktionszahl für das Coronavirus, die viele Bundesbürger zusammen mit der Zahl der Neuinfektionen und der aktuellen Mortalitätsrate mittlerweile im Schlaf aufsagen können, lag zuletzt wieder leicht erhöht zwischen 1,2 und 1,5, nachdem sie am Freitag mit 1,0 angegeben wurde. Erst wenn diese Kennziffer dauerhaft unter 1 gesunken ist, kann die Pandemie zumindest temporär als eingedämmt gelten, da jeder Infizierte weniger als eine Neuinfektion verursacht. Dies gilt als eine der Voraussetzungen dafür, dass auch die Bundesregierung den Hammer zur Seite legt, mit dem sie die Infektionskurve nach unten gedrückt hat.Bevor die Aufforderung zum Tanz erfolgen kann, müssen aber noch andere Bedingungen erfüllt sein: Die Belastung des Gesundheitssystems und die Verfügbarkeit freier Intensivbetten gelten als wesentliche Indikatoren. Vor allem müssen vor einer Lockerung der Einschränkungen aber die Voraussetzungen geschaffen sein, eine neuerliche Verbreitung des Virus etwa durch den flächendeckenden Einsatz von Mundschutzmasken zu verhindern oder mittels ausreichender Tests schnell lokalisieren und eingrenzen zu können. Auch die Möglichkeit zur Lokalisierung von Neuinfektionen mit Hilfe von Handydaten kann die Rückkehr der Gesellschaft auf das Tanzparkett beschleunigen.Für eine Lockerung der Vorsichtsmaßnahmen ist es noch zu früh, die Diskussion über die genaue Ausgestaltung der einzelnen Schritte zurück in den Alltag nach der Coronakrise kann aber gar nicht früh genug beginnen, hat der Ethikrat der Bundesregierung gestern betont. Sie sollte sich die Ermahnung ihres Beratergremiums zu Herzen nehmen. Im Moment wirkt es so, als würde die Regierung die Diskussion über die Rückkehr in den Alltag scheuen, weil sie kein Datum dafür nennen will. Der Gouverneur des US-Bundesstaates New York, Andrew Cuomo, der derzeit im Epizentrum der Pandemie steht und täglich um jedes Beatmungsgerät kämpft, forderte seine Landsleute schon in der vergangenen Woche auf, darüber nachzudenken, wie sich das Land verändern müsse, um gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Das mag man als naive Hybris abtun oder als unerschütterlichen Optimismus bewundern – eine ähnliche Aufforderung würde aber auch in Deutschland nicht schaden, wo sich die Diskussion über die Pandemie zusehends auf den Termin für die Lockerung der Maßnahmen zu ihrer Bekämpfung verengt.——Von Stefan ParaviciniDer Dax hat das Ende der Beschränkungen in der Coronakrise schon eingepreist. Die Zeit schwieriger Abwägungen ist damit noch nicht zu Ende.——