CursivDeutschlands Reformkraft

Transformation gelingt nur in kleinen Schritten

Eine klare Vision, ein stimmiger Plan und ein politischer Akteur, dem Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird. Nur dann gelingen Reformen, sagt der Münchner Soziologe Armin Nassehi.

Transformation gelingt nur in kleinen Schritten

Transformation gelingt nur in kleinen Schritten

Eine klare Vision, ein stimmiger Plan und ein politischer Akteur, dem Problemlösungskompetenz zugeschrieben wird. Nur dann gelingen Reformen.

Von Stephan Lorz, Frankfurt

Disruption ist im Moment ein Lieblingswort von Ökonomen. Mit durchaus guten und stimmigen Argumenten wird dargelegt, warum es bei den Sozialversicherungen nicht mehr so weitergehen kann wie bisher – wegen der Demografie, der Staatsverschuldung, der Lohnzusatzkosten. Warum wegen der Klimaerwärmung tiefgreifende Verhaltensänderungen und ein Umbau des Energiesystems notwendig sind, zudem Heizung und Auto getauscht werden müssen. Warum Migration und KI gut sind, die Arbeitswelt sich neu ausrichten muss, Unternehmen entlastet werden müssen, oft zuungunsten anderer (sozialer) Sektoren.

Doch in der Regel verfangen derlei ultimativ vorgebrachte Haltungen nicht bei den Bürgern. Sie erscheinen unwillig für Veränderungen. Darum tasten Parteien die großen Probleme lieber gar nicht an, erwähnen sie allenfalls in aller Abstraktheit und versprechen stattdessen lieber höhere Renten, allgemeine Steuerentlastungen und die Beibehaltung der alten Heizung. Rechtspopulisten wollen gar gleich zurück in die „gute alte Zeit“, als scheinbar alles besser war: keine Zumutungen, eine geordnete, vereinfachte Welt, die deutsche Industrie wieder mit alter Stärke, wenn nur billiges russisches Gas wieder durch die Leitungen fließt.

Begrenzte argumentative Wirkungskraft

Damit verschwindet aber der Druck nicht, der letztendlich doch zu ökonomischen, gesellschaftlichen und kulturellen Anpassungen zwingt. Zumal Deutschland in der Vergangenheit gezeigt hat, dass politische Kurswechsel sehr wohl möglich sind: Westbindung, Ostpolitik, Angebotspolitik, Vorfahrt für Naturschutz, Riester-Reform. Und trotzdem wurde die deutsche Wirtschaft Exportweltmeister, hatten die Produkte eine Qualität, die anderswo ihresgleichen suchte.

Wie die Bürger also für eine Transformation einstimmen? Nach Ansicht des Soziologen Armin Nassehi ist es grundfalsch, allein auf die Wirkungskraft von „guten Argumenten“ zu setzen; vor allem, wenn die Transformation als „alternativlos“ dargestellt und „von oben“ erzwungen wird. Denn da sich in der deutschen Gesellschaft bereits das Gefühl von Kontrollverlust breitgemacht habe, sei der Wunsch nach Sicherheit und Stabilität größer als der nach Veränderung.

Der Münchner Soziologe Armin Nassehi ist auch Mitglied des Deutschen EthikratesFoto: Christian Thiel, Ethikrat

Nassehi rät, dass sich die Politik mehr an Ärzten und religiösen Führern orientieren sollte. Sie würden in der Regel ein natürliches Vertrauen ihrer Patienten und Gläubigen genießen. Äußerungen und Entscheidungen würden nicht stets angezweifelt und müssten nicht ständig in allen Einzelheiten erklärt werden. Die Menschen vertrauten schlicht ihrer Kompetenz bzw. Heilsbotschaft. Entsprechend, so Nassehi in einer Debatte des Ifo-Instituts, müsse auch die Politik vorgehen: Autorität, Verlässlichkeit und Vertrauen durch Anmutung und Nachweis von Problemlösungskompetenz.

Hilfreich sei ferner die Formulierung einer plausiblen Zukunftsperspektive. Der Weg dorthin müsse grob skizziert und erste Entscheidungen müssten klar in die richtige Richtung gehen, um den Handlungswillen zu unterstreichen. Damit löse sich dann der Eindruck des Systemversagens auf, den viele extreme Parteien für sich instrumentalisierten und der den Stoff liefere für Zweifel an Eliten und dem System insgesamt. Nassehi: „Eine gute Führungsfigur muss nicht alles erklären, was sie tut, sondern durch Handeln dafür sorgen, dass man ihr vertraut.“ Alles Weitere ergebe sich dann Schritt für Schritt.

Evolution statt Disruption

Nassehi spricht sich unterm Strich für Evolution statt Disruption aus. „Eine Transformation der kleinen Schritte funktioniert wahrscheinlich schneller und zuverlässiger als das Scheitern mit großer Geste“, sagte er in Anlehnung an eines seiner Bücher. Es gehe nicht darum, die Transformation in allen Einzelheiten zu erklären, dabei in der Kommunikation „wissenschaftlich“ vorzugehen und jedes Problem und jede Entscheidung zu sezieren. Zumal die Bürger nicht nur durch völlige Intransparenz verunsichert würden, sondern durch „völlige Transparenz erst recht“. Es komme vor allem auf den ersten Impuls an und die darauffolgende evolutionäre Entwicklung, die auf Expertenebene vonstattengehe. Denn Transformation laufe mehr über die Akteure und eher nicht über Zentralinstanzen, die das verordneten.

BZ+
Jetzt weiterlesen mit BZ+
4 Wochen für nur 1 € testen
Zugang zu allen Premium-Artikeln
Flexible Laufzeit, monatlich kündbar.