PERSONEN

Tsai Ing-wen geht auf mehr Distanz zu China

Von Norbert Hellmann, Schanghai Börsen-Zeitung, 21.5.2016 Tasi Ing-wen, die neue Präsidentin Taiwans, dürfte über die genauen Formulierungen ihrer Antrittsrede lange geschwitzt haben. Das neue Oberhaupt der nahe dem chinesischen Festland gelegenen...

Tsai Ing-wen geht auf mehr Distanz zu China

Von Norbert Hellmann, SchanghaiTasi Ing-wen, die neue Präsidentin Taiwans, dürfte über die genauen Formulierungen ihrer Antrittsrede lange geschwitzt haben. Das neue Oberhaupt der nahe dem chinesischen Festland gelegenen Insel, das am Freitag den Amtseid ablegte, steht vor einer alles andere als einfachen Aufgabe: Es gilt, im Dauerkonflikt um den völkerrechtlichen Status Taiwans einerseits den einen militärischen Frieden wahrenden Status quo mit China nicht zu verletzen, andererseits will Tsai aber die den Wählern versprochene Wende in den Beziehungen zum Festland einleiten und dabei einen eigenständiger wirkenden Kurs steuern. Ein Hauch von MerkelDie 59-jährige Jura-Professorin wirkt in ihrem Auftreten stets besonnen und seriös und lässt ihren hohen akademischen Hintergrund gewissermaßen durchblitzen; sie hat es mittlerweile aber auch gelernt, im zu Anfang des Jahres gewonnenen Wahlkampf eine gewisse Volksnähe zu verbreiten und lockerer zu wirken. In der Presse wird sie als erstes weibliches Oberhaupt Taiwans als “Asiens Merkel” apostrophiert, ein Vergleich, der freilich ein wenig hinkt.Während die Bundeskanzlerin als Vertreterin der wirtschaftsstärksten Nation Europa eine natürliche Führungsrolle auf internationaler Bühne übernommen hat, wird es Tsai mit Taiwan kaum gelingen, aus dem Schatten der Volksrepublik China herauszutreten. Freilich ist Taiwan mit seinen knapp 24 Millionen Einwohnern wirtschaftlich alles andere als ein Zwerg und steht beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) immerhin auf Platz 26 in der Weltrangliste.Die Frage ist aber, ob mit Tsais Präsidentschaft eine Zäsur im politischen und wirtschaftlichen Beziehungsgeflecht zwischen Taiwan und China erfolgt. Bei ihrer Antrittsrede verzichtete sie jedenfalls auf das von Peking nachdrücklich geforderte Bekenntnis zum sogenannten “Konsens von 1992”, was in Peking als ein erster, aber nicht unerwarteter Affront verstanden wird.Es geht um eine Vereinbarung, mit der sich beide Seiten vor 24 Jahren auf die Formel verständigt hatten, dass es nur “ein China” gibt. Der Konsens wird allerdings auf beiden Seiten unterschiedlich interpretiert. Während China Taiwan formell weiterhin als eine (abtrünnige) chinesische Provinz und damit einen Teil der Volksrepublik ansieht, pocht Taiwan auf eine eigene Identität als “Republic of China”, genießt aber keine völkerrechtliche Anerkennung als eigener Staat. Vorsichtige TonlageTsai zeigte sich am Freitag bemüht, einen insgesamt konzilianten und vorsichtigen Ton anzuschlagen, und betonte die Notwendigkeit friedlicher Beziehung und einer Wahrung des Status quo. Sie hatte als Vorsitzende der Democratic Progress Party (DPP), die traditionell eine Unabhängigkeit Taiwans und die Gründung eines eigenen Staates zumindest als Langfristziel anstrebt, ihrer Partei bei den Wahlen im Januar zu einer klaren Mehrheit verholfen und sich damit gegen die bislang regierende und tendenziell “prochinesische” Kuomintang-Partei (KMT) durchgesetzt. Positive KlimaveränderungDie DPP hatte zwischen 2000 und 2008 bereits einmal die Präsidentschaft in Taiwan inne, eine Zeit, in der die Beziehungen zu China stark abkühlten. Unter der anschließenden Regierung der KMT und dem nun scheidenden Präsidenten Ma Ying-jeou, der sich stets zum Konsens von 1992 und damit zum Ein-China-Grundsatz bekannt hatte, war es zu einer nachhaltigen Anregung des bilateralen Wirtschaftsaustausches gekommen. Dazu gehörte auch die gegenseitige Öffnung für private und touristische Besuche bei Aufnahme von direkten Flug- und Schiffsverbindungen.Inwieweit das Wirtschaftsklima Taiwans von dem Regierungswechsel nun künftig beeinträchtigt zu werden droht, gilt als eine offene Frage. Das Gros der Experten rechnet mit grundsätzlich stabilen Wirtschaftsbeziehungen zum chinesischen Festland und geringen Auswirkungen auf den Außenhandel und die gegenseitigen Direktinvestitionen. Gleichzeitig wird aber auch die Gefahr gesehen, dass es je nach politischer Tonlage in den kommenden Monaten und Jahren immer wieder zu negativen Schocks und Beeinträchtigungen des Wirtschaftsvertrauens kommen kann. Diversifizierung ist gefragtTsai hat bei ihrem Antritt betont, dass sie eine Diversifizierung der stark exportlastigen Wirtschaft – mit China und Japan als wichtigsten Abnehmern – anstrebt. Gleichzeitig sucht sie eine Anbindung an multilaterale Freihandelsabkommen wie die von den USA aufgezogene Trans-Pacific Partnership (TPP), bei der China außen vor steht. Gegenwärtig bekommt Taiwan, dessen Wirtschaftsleistung zu zwei Dritteln vom Außenhandel abhängt, die laufende Konjunkturabkühlung in China zu spüren. In den letzten drei Quartalen war das taiwanesische BIP in ununterbrochener Folge jeweils leicht geschrumpft, so dass man es technisch gesehen bereits mit einer Rezession zu tun hat.