Zentralbank

Üppige Liquidität gefährdet die Unabhängigkeit der EZB

In den vergangenen 15 Jahren hat die EZB, wie andere Zentralbanken auch, ihren Handlungsrahmen geändert.

Üppige Liquidität gefährdet die Unabhängigkeit der EZB

Die politische Ausrichtung der Europäischen Zentralbank (EZB) – eine allmähliche, aber schnelle Serie von Zinserhöhungen zur Eindämmung der Inflation – ist nun klar. EZB-Präsidentin Christine Lagarde hatte Ende vergangenen Jahres gesagt, dass die Situation „eine weitere Zinserhöhung um 50 Basispunkte auf unserer nächsten Sitzung und möglicherweise auf der übernächsten Sitzung und möglicherweise auch danach nahelegt“. Klaas Knot, Präsident der niederländischen Zentralbank und ein einflussreiches Mitglied des EZB-Rats, erklärte, dass die Zinserhöhungen nun „am Anfang der zweiten Hälfte“ stehen, nachdem die Zinsen von Juli bis Dezember 2022 um 2,5 Prozentpunkte angehoben wurden.

Eine bisher kaum diskutierte Frage ist, wie dies geschehen soll. Oberflächlich betrachtet befinden wir uns hier auf einem Nebenschauplatz, aber in Wirklichkeit sind damit große Probleme verbunden. Die Folgen könnten später auf die Zentralbank zurückfallen und zwar dort, wo es am meisten weh tut: bei ihrer Unabhängigkeit.

In den vergangenen 15 Jahren hat die EZB, wie andere Zentralbanken auch, ihren Handlungsrahmen geändert. Vor 2008 war es üblich, das Bankensystem mit zu wenig Liquidität zu versorgen und diese durch häufige Rückkaufgeschäfte zu refinanzieren. Nach der Finanzkrise führten die groß angelegten Ankäufe von Vermögenswerten (quantitative Lockerung) zu einem chronischen Überschuss an Bankenliquidität.

Im Zuge der Corona-Pandemie lief die quantitative Lockerung wieder auf Hochtouren: Die Liquidität, die vor der Krise praktisch bei null lag, beläuft sich nun auf etwa 4 Bill. Euro, was etwa 30% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Euroraums entspricht. Dies ist ein eindrucksvolles Beispiel für das, was der Wirtschaftsausschuss des britischen Oberhauses im Jahr 2021 als „Ratchet-up-Effekt“ bezeichnete: Die quantitative Lockerung steigt mit jedem negativen Schock an, wird aber anschließend nicht zurückgenommen. Der Bericht des Ausschusses stellt auch fest, dass die positiven Auswirkungen der quantitativen Lockerung über die kurze Frist hinaus fraglicher sind, als die Zentralbanken zunächst angenommen haben.

Es gibt zwei Ansätze, um den angehäuften monetären Überhang abzubauen, sobald die Zinssätze zu steigen beginnen. Die eine Option besteht darin, die quantitative Lockerung rückgängig zu machen und die zuvor erworbenen Anleihen zu verkaufen oder sie bei Fälligkeit nicht zu erneuern, bis der Überhang wieder abgebaut ist. Die andere besteht darin, die reichlich vorhandene Liquidität im Bankensystem zu belassen und die Marktzinsen durch eine Anhebung der Zinsen für die Einlagefazilität der EZB anzuheben.

Beide Ansätze sind wirksam mit Blick auf die Steuerung der Zinssätze, aber beim zweiten Ansatz behält die Zentralbank dauerhaft ein großes Portfolio an Staatsanleihen in ihrer Bilanz. Die quantitative Lockerung, die einst als „unkonventionelle“ Maßnahme zur Bewältigung von Notfällen galt, wird zur Norm in dem Sinne, dass ihre Folgen dauerhaft sind.

Erste Anzeichen deuten darauf hin, dass die EZB den zweiten Weg einschlagen wird. Seit Juli 2022 wurde der Einlagensatz im Einklang mit den anderen Zinssätzen angehoben. Ein moderater Abbau des Anleiheportfolios (15 Mrd. Euro pro Monat) wird voraussichtlich im März beginnen, aber ein hoher Einlagensatz (derzeit 2% mit steigender Tendenz), der risikolos ist, hält die Banken davon ab, Staatsanleihen zu erwerben, die alle in unterschiedlichem Maße riskant sind.

Bereits 2019 kündigte die US-Notenbank Fed an, dass sie weiterhin mit einem großzügigen Liquiditätsrahmen arbeiten will. Die EZB könnte versucht sein, ihrem Beispiel zu folgen. Ein Argument für diese Entscheidung war, dass die Entkopplung der Liquidität von den Zinssätzen zur Verringerung der Risiken für die Finanzstabilität beiträgt. Als allgemeines Argument ist dies jedoch nicht überzeugend. Eine Zentralbank sollte immer bereit sein, die Liquidität in einer Krise auszuweiten, und sie sollte auch über die entsprechenden Ins­trumente und Befugnisse verfügen. Aber nirgendwo wird verlangt, dass jederzeit ein großes Liquiditätsvolumen vorgehalten wird. Im Falle der EZB wiegt das Argument aus drei Gründen schwer.

Erstens handelt die EZB im institutionellen Rahmen des Euroraums weitgehend allein, ohne Unterstützung durch einen zentralisierten Haushalt oder andere politische Instrumente auf Bundesebene. Dies fördert in politischen und öffentlichen Meinungskreisen den irreführenden Eindruck, dass die Zentralbank mit jedem Problem und Schock fertig werden kann und sollte. Wenn die EZB sich selbst und andere davon überzeugt, dass die Geldpolitik mit einem beliebigen Maß an Liquidität und öffentlichen Wertpapierbeständen ebenso gut durchgeführt werden kann, kann der Druck, Regierungen bei jeder plausiblen Gelegenheit und ohne Ausstiegsstrategie zu finanzieren, unwiderstehlich werden. An diesem Punkt geht die Unabhängigkeit verloren und damit auch ein wichtiges geldpolitisches Gegengewicht zur fiskalischen Macht der Nationalstaaten.

Der zweite Unterschied besteht darin, dass der Euro einem einzigartigen Risiko ausgesetzt ist, das mit der Fragilität der Finanzpolitik einiger seiner Mitglieder zusammenhängt – der Fragmentierung. Die Verpflichtung des ehemaligen EZB-Präsidenten Mario Draghi, „alles zu tun, was nötig ist“, um die Währung zu retten, hat dies zu einer impliziten Verantwortung der EZB gemacht. Im Jahr 2012 ging diese Wette voll auf – der Euro wurde ohne unmittelbare Kosten gerettet –, aber es ist unwahrscheinlich, dass sich dieses Ergebnis wiederholen wird. Jede potenzielle künftige Fragmentierung birgt die Gefahr, dass die Zentralbank in eine Verpflichtungsfalle gerät, die eine immer stärkere Monetarisierung der Staatsdefizite erfordert.

Schließlich deuten drittens langfristige Daten darauf hin, dass das Potenzialwachstum im Euroraum weniger dynamisch ist als in den USA. Die von der Europäischen Union eingeleiteten Reform- und Investitionsprogramme könnten dies ändern, aber solange dies nicht geschieht, werden die Forderungen an die Zentralbank, die Nachfrage zu stimulieren – auch durch die quantitative Lockerung, trotz der Zweifel an deren Wirksamkeit –, wahrscheinlich weiter bestehen.

Die EZB wird ihrer Verantwortung in dem komplexen Umfeld, in dem sie sich befindet, nur gerecht werden können, wenn sie die Kontrolle über ihre Bilanz behält. Dies erfordert nun, dass sie den derzeit geplanten Zinsstraffungszyklus mit einer deutlichen Verringerung ihrer öffentlichen Wertpapierbestände kombiniert, den Einlagensatz so bald wie möglich von den Marktsätzen abkoppelt und zu einem „begrenzten Liquiditätsrahmen“ zurückkehrt. Nach der jüngsten Klarstellung ihrer Zinsabsichten ist dies die nächste Front, an der die EZB ihre Entschlossenheit unter Beweis stellen sollte.