EUROPAWAHL (II)

Verdrossen über diese Politik

Ein politisches Erdbeben wie in Frankreich, eine Jahrhundertwahl wie in Großbritannien oder eine doppelte Radikalisierung nach links und rechts wie in Griechenland hat das deutsche Ergebnis der Europawahl nicht "zu bieten". Auf solche Verwerfungen...

Verdrossen über diese Politik

Ein politisches Erdbeben wie in Frankreich, eine Jahrhundertwahl wie in Großbritannien oder eine doppelte Radikalisierung nach links und rechts wie in Griechenland hat das deutsche Ergebnis der Europawahl nicht “zu bieten”. Auf solche Verwerfungen mit noch unabsehbaren Folgen verzichtet man auch gerne. Wer in dem Wahlausgang hierzulande aber ein Non-Event sehen wollte, der dürfte schiefliegen und könnte schon bei den Landtagswahlen im August und September in Sachsen, Thüringen und Brandenburg eines Besseren belehrt werden.Sicher kann man die 7 %, die die eurokritische Alternative für Deutschland (AfD) am Sonntag trotz vermeintlicher Entspannung in der Euro-Krise holte, nicht einfach auf weitere Urnengänge hochrechnen. Wie schnelllebig Politik und wie kurzlebig Wahlerfolge sein können, zeigen beispielhaft Aufstieg und Fall der “Piraten”. Sollte der “neuen Volkspartei”, so AfD-Chef Bernd Lucke, aber der Einzug auch in deutsche Parlamente gelingen, hätte spätestens das nachhaltige bundes- und auch europapolitische Weiterungen, weil die junge Partei womöglich bei nationalen Regierungsbildungen zum Zünglein an der Waage würde. Oder die schwarz-rote “Groko” wäre über Berlin hinaus für lange Zeit “alternativlos” – nicht gerade ein demokratischer Idealzustand.Wahrscheinlicher ist indes, dass schon das Wahlergebnis vom Sonntag auch in Deutschland die Politik spürbar verändern wird. Die CSU hat ja bereits vor der Wahl versucht, sich dementsprechend EU-skeptisch zu positionieren, dabei freilich übersehen, dass die Bürger dann doch lieber das Original – das ist in diesem Fall die AfD – wählen als die Kopie.So inflationär jetzt der Begriff “Denkzettel” gebraucht wird, er trifft schon den Kern. Ein erheblicher Teil der AfD-Stimmen dürfte von Protestwählern stammen, die dem Motto des CDU-Politikers Ronald Pofalla gefolgt sind: “Ich kann deine Fresse nicht mehr sehen. Ich kann den Scheiß nicht mehr hören.” Was der damalige Kanzleramtschef einst seinem Parteifreund Wolfgang Bosbach an den Kopf warf, als dieser in Sachen Euro-Rettungsschirm von der Parteilinie abwich und an die Unabhängigkeit eines Abgeordneten erinnerte, sieht eine beachtliche Minderheit der Wähler mit Blick auf das Krisenmanagement der etablierten Parteien ganz ähnlich. Darin kommt nicht unbedingt Politikverdrossenheit und auch nicht Europaverdrossenheit zum Ausdruck, wohl aber Verdrossenheit über eine Europapolitik der gebrochenen Versprechen und Verträge sowie über die permanente Umverteilung von Gläubigern zu Schuldnern auf allen Ebenen.