Vom Glück zu großer Komplexität
Von Andreas Heitker, HelsinkiEs könnte einer der ersten Gesetzesvorschläge der neuen EU-Kommission werden: Noch in diesem Jahr will die Brüsseler Behörde eine umfassende Überprüfung der europäischen Haushaltsregeln abschließen und in dem Zusammenhang dann womöglich auch eine Reform in die Wege leiten. Es geht um den Gesetzesrahmen, der 2011 bis 2013 als Antwort auf die Staatsschulden-Krise im Euroraum eingeführt wurde und seither detailreich den Stabilitäts- und Wachstumspakt ergänzt. Diese “Six-Pack”- beziehungsweise “Two-Pack”-Regeln führten die Haushaltsüberwachung der Euro-Staaten in ihrer heutigen Form ein, einschließlich der Defizitverfahren, die theoretisch in Sanktionen münden können.Das Regelwerk und seine Anwendung durch die EU-Kommission standen in den letzten Jahren immer wieder im Zentrum der Kritik, zuletzt insbesondere im monatelangen Theater rund um den italienischen Haushalt der Lega/Fünf-Sterne-Koalition. Eine erste Diskussion beim informellen Treffen der EU-Finanzminister in Helsinki am Wochenende hat aber gezeigt: Die Chance auf eine wirkliche Reform ist äußerst gering. Review bis JahresendeDer französische Finanzminister Bruno Le Maire sprach gar von “Zeitverschwendung”. Eine Neuaufstellung der Fiskalregeln sei viel zu kompliziert. Man solle die Zeit lieber dafür nutzen, über mehr Investitionen zu sprechen. Und der für die Finanzmärkte zuständige EU-Kommissionsvize Valdis Dombrovskis, unter dessen Hoheit der laufende Review durchgeführt wird, sagte, viele der Finanzminister seien der Ansicht, dass die Fiskalregeln nicht perfekt seien, sie aber “eigentlich einigermaßen gut funktionieren”.Die Argumente hierfür: Aktuell gibt es kein Land mehr in einem Verfahren wegen eines exzessiven Haushaltsdefizits. Nach der Finanzkrise waren 2011 noch 24 EU-Länder in einem Defizitverfahren. Spanien war von diesen das letzte Land, das in diesem Jahr aus dem Verfahren entlassen wurde. Auch die Staatsverschuldung in der Eurozone ist in den vergangenen Jahren Schritt für Schritt weiter zurückgegangen. Schlecht für InvestitionenDoch haben hierzu die Fiskalregeln beigetragen oder doch eher die gute Konjunktur? Für Kritiker wie den Finanzexperten der Grünen im EU-Parlament, Sven Giegold, ist die Antwort klar: “Ökonomisch sind die Regeln schädlich – in guten Zeiten zu lax, in schlechten Zeiten zu restriktiv”, analysiert er. Die Regeln des Fiskalpakts seien ökonomisch unsinnig und für hoch verschuldete Länder wie Italien gar nicht umsetzbar. Für Giegold hat dies auch politisch Folgen: Die Regeln seien deshalb “in ihrer heutigen Form auch Wasser auf den Mühlen von AfD & Co”.Der Europäische Fiskalrat, ein unabhängiges Beratungsgremium der EU-Kommission, hat im vergangenen halben Jahr die Haushaltsregeln noch unter die Lupe genommen und kommt in einer jetzt vorgelegten Studie zu einer ähnlichen Einschätzung wie Giegold: Die Regeln seien zu kompliziert, hätten die Prozyklizität der Finanzpolitik nicht gemindert und hätten vor allem in hoch verschuldeten Ländern zu einem Absenken der öffentlichen Investitionen geführt.Der Vorsitzende des Fiskalrats, Niels Thygesen, ein emeritierter Professor für internationale Wirtschaftswissenschaften der Universität Kopenhagen, hat die Untersuchungsergebnisse seines Gremiums einschließlich der politischen Empfehlungen am Wochenende den EU-Finanzministern vorgestellt. Begeisterungsstürme hat er dafür offenbar nicht geerntet. Die Minister seien “nicht zu sehr einig” gewesen, bemerkte er nach der Sitzung.Thygesen und seine Mitarbeiter hatten sich in ihrem über 100 Seiten langen Bericht für eine deutliche Vereinfachung der Haushaltsregeln stark gemacht. Diese sollten künftig im Wesentlichen auf eine einfache mittelfristige Schuldenobergrenze und eine Obergrenze für das Wachstum der Primärausgaben beschränkt bleiben. Eingeführt werden soll auch eine “Goldene Regel”, um öffentliche Investitionen zu schützen.Danach würden bestimmte wachstumsfördernde Ausgaben von der Ausgabenobergrenze ausgeschlossen. Statt finanzieller Sanktionen bei Nichteinhaltung der Fiskalregeln, die politisch schwer durchzusetzen sind, würde der Fiskalrat Anreize für die Einhaltung setzen – beispielsweise über einen Zugang zu Mitteln aus einer gemeinsamen Fiskalkapazität.Doch darüber gibt es unter den EU-Finanzministern und auch in der Europäischen Kommission keinen Konsens. Dombrovskis hat sich bereits strikt dagegen ausgesprochen, einzelne Investitionsbereiche von der Defizitberechnung auszuschließen. Er weiß, dass dies quasi die Büchse der Pandora öffnen könnte und immer mehr Schulden schließlich nicht mehr als Schulden eingestuft werden könnten. Und eine radikale Vereinfachung der Regeln, das ist auch allen bewusst, bedeutet auch, dass es keine Flexibilität bei der Auslegung mehr geben kann. Das will längst nicht jeder.Kritiker verweisen heute darauf, dass das Handbuch zur Interpretation des Stabilitäts- und Wachstumspakts mittlerweile über hundert Seiten lang ist. Die Komplexität der heutigen Regeln mit immer neuen Kennzahlen wie dem “Output Gap” oder einem “Expenditure Benchmark” verstünden im Detail wohl nur noch eine Hand voll Experten in der zuständigen Brüsseler Generaldirektion Ecfin, heißt es verschiedentlich. Und dass es 17 Schritte braucht, bis ein Verstoß gegen die Defizitregeln auch zu Sanktionen führt, sei ohnehin kaum vermittelbar. “Die Europäische Kommission hat das Regelwerk bewusst aufgebläht, um sich selbst mehr Entscheidungsspielräume zu schaffen”, moniert der CSU-Finanzexperte Markus Ferber. Sein Grünen-Kollege Giegold schlägt in die gleiche Kerbe: “Die heute komplexen Regeln machen irgendwie alle glücklich, weil man mit ihnen alle Entscheidungen rechtfertigen kann.” Nur kosmetische Anpassung?Dombrovskis, der auch in der nächsten EU-Kommission unter Ursula von der Leyen für das Wirtschafts- und Finanz-Ressort verantwortlich sein wird, will angesichts der allgemeinen Skepsis eine erneute Öffnung der “Six-Pack”- und “Two-Pack”-Gesetze möglichst vermeiden, weil er weiß, dass dies lange Diskussionen nach sich ziehen wird, ohne die Gewissheit auf eine Einigung. Der EU-Abgeordnete Ferber hofft dagegen, dass es mehr geben wird als eine kosmetische Anpassung der Regelumsetzungen. Er hofft auf ein einfacheres Regelwerk, das nachvollziehbarer sei, der Kommission weniger Spielraum gebe und entsprechend stringent umgesetzt werde. “Ein einfacheres und vorhersehbares Regelwerk würde auch dafür sorgen, dass es zu weniger Streit über die Auslegung kommt.”