IM BLICKFELD

Warten auf die zweite Welle

Von Stefan Paravicini, Berlin Börsen-Zeitung, 16.6.2020 Die Reisebeschränkungen, die aufgrund der Corona-Pandemie Mitte März eingeführt wurden, sind seit gestern in weiten Teilen Europas wieder aufgehoben. Einige Tausend "Test"-Touristen aus...

Warten auf die zweite Welle

Von Stefan Paravicini, BerlinDie Reisebeschränkungen, die aufgrund der Corona-Pandemie Mitte März eingeführt wurden, sind seit gestern in weiten Teilen Europas wieder aufgehoben. Einige Tausend “Test”-Touristen aus Deutschland haben sich sogar schon in Richtung Balearen aufgemacht, obwohl die Reisewarnung des Außenministeriums für Spanien ebenso wie für Norwegen, Finnland und Schweden noch gilt. Sie wurden auf Mallorca mit Applaus empfangen. Die immer deutlicher spürbaren Lockerungen nach drei Monaten Coronakrise mit unterschiedlich harten “Lockdowns” sorgen überall für Erleichterung.Am Aktienmarkt war von Vorfreude auf Urlaub am Mittelmeer zum Wochenauftakt dagegen wenig zu spüren. Nachdem in den vergangenen Wochen die Hoffnungen auf schnelle Lockerungen und eine rasche wirtschaftliche Erholung nach der Pandemie die Richtung bestimmt hatten, ist über das Wochenende die Furcht vor einer zweiten Infektionswelle zurückgekehrt. Anlass sind vor allem die jüngsten Nachrichten aus China. Wie die Weltgesundheitsorganisation WHO am Montag erklärte, haben sich in Peking schon mehr als 100 Menschen neu mit dem Coronavirus infiziert, seit am Donnerstag der erste Fall seit zwei Monaten in der Hauptstadt registriert worden war. Die WHO sei wegen des Ausbruchs besorgt, weil Peking eine große und eng verflochtene Stadt sei, erklärte Mike Ryan, der bei der Weltgesundheitsorganisation zuständig für das Coronavirus ist. Doch nicht nur die WHO, die wegen ihres Umgangs mit ihrem wichtigen Geldgeber China in der Corona-Pandemie kritisiert wurde, ist beunruhigt. “China war das erste Corona-Ausbruch-Land”, sagte Thomas Altmann, Portfoliomanager bei der Vermögensverwaltung QC Partners, am Montag. “Viele fragen sich jetzt, ob China auch das erste Land mit der zweiten Welle ist.”Doch nicht nur aus China kommen derzeit schlechte Nachrichten, auch in den USA und Japan sind die Infektionszahlen zuletzt wieder gestiegen. Eigentlich dürfte das für wenig Überraschung sorgen. Schließlich gilt es unter Virologen als nahezu ausgeschlossen, dass Sars-CoV-2, das für die Corona-Pandemie verantwortliche Virus, ohne Impfstoff ganz zurückgedrängt werden kann. Es gebe “nahezu keine Chance”, dass das Virus über den Sommer besiegt werden könne, weshalb eine zweite Infektionswelle “unvermeidbar” sei, sagte Anthony Fauci, Direktor des National Institute of Allergy and Infectious Diseases und in der US-Öffentlichkeit ungefähr so beliebt wie hierzulande der Chefvirologe der Berliner Charité, Christian Drosten, schon vor einem Monat bei einer Anhörung vor dem US-Senat. Zu einer ähnlichen Einschätzung kamen zuvor auch die Experten des Center for Infectious Disease Research and Policy (Cidrap) der Universität Minnesota. In einer Studie stellten sie drei Szenarien für die Entwicklung der Pandemie in den nächsten 18 bis 24 Monaten in der nördlichen Hemisphäre vor, wobei “ähnliche Muster im Süden auftreten könnten”, wie die Forscher schreiben.Die Projektionen müssten Investoren Anlass zur Ernüchterung geben. Denn das Szenario mit der höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit ist nach Einschätzung des Cidrap eine zweite Welle im Herbst, die deutlich stärker als die erste Welle ausfällt. So ähnlich sah der Verlauf der Spanischen Grippe vor mehr als 100 Jahren aus. Ein “langsames Nachbrennen” mit einem leichten Auf und Ab der Neuinfektionen sei möglich, in der Geschichte vergleichbarer Pandemien aber noch nie zu beobachten gewesen, geben die Forscher zu bedenken. Bleibt als drittes Szenario noch ein Ritt durch Täler und Hügel, deren Erhebungen mit der ersten Welle vergleichbar sein könnten. Lernkurve vs. InfektionskurveNatürlich gibt es auch unter Experten andere Einschätzungen. Christian Drosten gab zuletzt zu Protokoll, dass eine zweite Welle ganz ausbleiben könnte, wenn die Maßnahmen zur Eindämmung der Epidemie rasch genug an neue Erkenntnisse über das Virus angepasst werden können. Die mögliche Gestalt einer zweiten Welle, die möglichen internationalen Reaktionen und die damit verbundenen möglichen wirtschaftlichen Auswirkungen werden die Märkte trotzdem noch über den Sommerurlaub hinaus in Atem halten.