Warum die EZB es in Deutschland so schwer hat
Von Stefan Reccius, Frankfurt
Christine Lagarde brauchte eine Weile, bis sich ihr Schock über das aufsehenerregende Urteil des Bundesverfassungsgerichts legte. Kaum ein halbes Jahr war sie als EZB-Präsidentin im Amt, als die Karlsruher Richter die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank (EZB) im Mai 2020 als teilweisen Verstoß gegen das Grundgesetz brandmarkten. Später, so erinnert der CDU-Europaparlamentarier Sven Simon eine Begegnung mit Lagarde, erzählte sie kopfschüttelnd von der ihrer Ansicht nach unnötig harschen Wortwahl der deutschen Verfassungshüter.
Deutschland und die EZB: Das ist die Geschichte einer schleichenden Entfremdung, ein nicht enden wollendes Drama aus juristischen Dauerfehden, Missverständnissen, persönlichen Angriffen und Resignation. Europas Währungshüter haben im Land der Kläger, der Sparer und der Mieter nicht nur ihren Hauptsitz, sondern auch einen besonders schweren Stand. Das (nahende) Ende des geldpolitischen Ausnahmezustands in der Eurozone mit Null- und Negativzinsen sowie billionenschweren Anleihekäufen ist ein guter Zeitpunkt, innezuhalten – und das ambivalente Verhältnis der Deutschen zu Europas Währungshütern aufzuarbeiten.
Denn es ist, auch das, eine Beziehung voller Widersprüche. Glaubt man Umfragen im Auftrag der EU-Kommission, haben die Deutschen eine relativ positive Meinung von der EZB. „Entgegen dem weit verbreiteten Eindruck sind die Zustimmungsraten zum Euro und das Vertrauen in die EZB in Deutschland höher als im europäischen Durchschnitt“, konstatieren Marius Kleinheyer und Thomas Mayer vom Flossbach von Storch Research Institute. Aber, auch das zeigen die Eurobarometer-Erhebungen deutlich, das Ansehen der EZB hat seit der Euro-Krise schwer gelitten und sich allenfalls leicht erholt. Dagegen ist die Popularität des Euro ungebrochen – vor allem in Deutschland (siehe Grafik).
Kleinheyer und Mayer führen die mitunter verzerrte Wahrnehmung der EZB in der öffentlichen Meinung auf „die sich über zwei Jahrzehnte hinziehende Klagewelle“ zurück. Das Verfassungsgerichtsurteil zum regulären Staatsanleihekaufprogramm PSPP ist der vorläufige Höhepunkt und eine Zäsur – auch für das gespaltene Verhältnis der Deutschen zur EZB. Bis dato hatte Karlsruhe sämtliche EZB-Programme durchgewinkt. Die einen werteten das PSPP-Urteil als Grenzüberschreitung und intolerablen Affront gegen europäische Institutionen. Andere begrüßten es als überfälliges Stoppschild für die vermeintlich übermächtige EZB.
Der Bankenexperte Jan Pieter Krahnen ist quer durch Europas Finanzszene vernetzt, so dass er einen guten Eindruck von den unterschiedlichen Stimmungen hat. „Es fällt auf, dass die Sicht auf die EZB in Deutschland eine andere ist als in Frankreich oder Italien“, sagt Krahnen. Seiner Beobachtung nach schlägt der EZB in Deutschland großes Misstrauen entgegen, weil hiesige Beobachter bei der Bewertung der EZB-Geldpolitik unverblümt die nationale Brille aufsetzen. Dieser „Home Bias“, wie Krahnen das Phänomen nennt, „ist hier sehr ausgeprägt“. Der frühere EZB-Chefvolkswirt Peter Praet hatte sich schon 2016 beschwert: „Wie in diesem Land auf diese Institution geschossen wird, ist manchmal schwer zu ertragen.“
Graf Draghila, Luxus-Lagarde
Das haben auch EZB-Chefin Lagarde und EZB-Direktorin Isabel Schnabel zu spüren kommen. Die „Bild“-Zeitung schmähte Lagarde wegen deren Vorliebe für Chanel-Mode als „Luxus-Lagarde“. Auch Schnabel wurde zur Zielscheibe: „Sie machen uns arm und sich selbst reich“, titelte „Bild“. Die Diffamierungen hätten Schnabel nicht kaltgelassen, heißt es in ihrem Umfeld. Die Wirtschaftswissenschaftlerin hat es sich mit ihrem Amtsantritt im EZB-Direktorium vor zwei Jahren erkennbar zur Aufgabe gemacht, den Deutschen die Geldpolitik verständlich zu machen und um Unterstützung für den EZB-Kurs zu werben. Dass sie in Sachen Inflation lange beschwichtigte, brachte ihr angesichts des dramatischen Umschwungs allerdings Kritik ein – ebenso wie eine als unpassend erachtete Medienschelte.
Mit Schnabels Berufung war auch die Hoffnung verbunden, sie möge länger durchhalten als ihre Vorgänger im EZB-Direktorium. Ob Sabine Lautenschläger, Jörg Asmussen oder Ex-EZB-Chefvolkswirt Jürgen Stark: Immer wieder haben deutsche Vertreter von Rang und Namen bei der EZB vorzeitig hingeschmissen. Stets spielten Frust über den EZB-Kurs und ein Gefühl der Machtlosigkeit gegen die strukturelle Mehrheit der Verfechter einer lockeren Geldpolitik im EZB-Rat eine Rolle. Nicht zuletzt aus diesem Grund gingen auch die Bundesbankchefs Jens Weidmann und Axel Weber vorzeitig von Bord.
Verbrieft ist Weidmanns Zerwürfnis mit Ex-EZB-Chef Mario Draghi. Den Italiener karikierte die „Bild“ einst als „Graf Draghila“, der den Deutschen die Sparguthaben wie Blut entsauge – ein weiterer Tiefpunkt medialer EZB-Schelte. Hintergrund: Nach Meinung von Kritikern leiden die Deutschen stärker als Mitbürger in anderen Euro-Staaten unter den Dauerniedrigzinsen: Sie halten überdurchschnittlich viel Geld auf dem Sparkonto, was seit Jahren kaum Erträge abwirft – oder sogar extra kostet. Außerdem wohnen sie häufiger zur Miete als Spanier, Portugiesen und Italiener, die meist Wohneigentum besitzen – und dank Immobilienbooms stärker von Wertsteigerungen profitiert haben.
Deutscher Staat profitiert
Das Narrativ von der vermeintlichen „Enteignung“ deutscher Sparer durch die EZB hat seit Jahren Konjunktur. Dabei fällt gerne unter den Tisch, dass der deutsche Staat und somit der Steuerzahler in den Jahren der lockeren Geldpolitik viel Geld gespart hat – groben Schätzungen zufolge mehrere Hundert Milliarden Euro seit der Weltfinanzkrise. Zuletzt hat der Fiskus mit der Emission von Staatsanleihen sogar Gewinn gemacht – Negativzinsen sei Dank.
Die Kritiker ficht das kaum an. Den Zwist mit Karlsruhe über das PSPP-Programm mögen EZB und Bundesbank beigelegt haben, indem sie im diskreten Zusammenspiel mit Bundesregierung und Bundestag die Verfassungsrichter besänftigt haben. Doch es sind bereits Klagen gegen das Pandemie-Notfallkaufprogramm PEPP auf dem Weg, und erste Kritiker drohen mit Klagen gegen ein künftiges Kaufprogramm. Die EZB wird ungeachtet ihrer Zinswende weiter einen schweren Stand in Deutschland haben.
Zuletzt erschienen:
Die Entscheidungen (14.7.)
Die Entscheider (15.7.)
Der Vergleich (16.7.)
Die Lage (19.7.)