Was dem Strommarkt wirklich fehlt
Der europäische Strommarkt hat gemäß der Ansicht der Kommission viele Jahre lang gute Dienste geleistet. Als Schwäche wird aber die derzeitige hohe Belastung der Haushalte ausgemacht. Es verwundert, dass dies der Grund für eine Reform sein soll, da der aktuelle Krisenzustand erwartungsgemäß von vorübergehender Natur ist. Die hohen Preise spiegeln vor allem die derzeitige kriegsbedingte Knappheit an Gas wider. Zugleich weist die Krise aber auch auf einen Schwachpunkt im Marktdesign hin, auf den aber die Kommission bei ihren Vorschlägen nur am Rande eingeht: Die Anreize für Erzeuger, eine verlässliche Stromversorgung sicherzustellen, sind unzureichend.
Mangelnde Anreize
Deutschland hat für den Strommarkt prinzipiell das Marktdesign eines „Energy-only-Marktes“ gewählt. Dies ist der klassische Lehrbuchmarkt – Stromproduzenten bieten ihren Strom am Markt an, die großen Stromverbraucher und Versorgungsbetriebe kaufen ihn dort. Investitionen in Produktionskapazitäten müssen sich in einem Energy-only-Markt durch den Marktpreis für Strom finanzieren.
Schon als 2016 diese Marktform gewählt wurde, gab es Kritik daran, u. a. von den Autoren dieses Beitrags. Offen war nämlich, ob das Design ausreichend Anreize für Investitionen in Erzeugungskapazitäten geben würde. Insbesondere die flexible Erzeugung, also solche, die unabhängig von Wetterbedingungen ist, stand im Fokus: Würden Unternehmen bereit sein, in Speicher oder neue Gaskraftwerke zu investieren? Die Befürworter des Designs argumentierten, dass die Erwartung, in Zeiten knapper Produktionskapazität aufgrund hoher Strompreise hohe Erlöse zur Deckung der Fixkosten zu erzielen, dazu führe, dass Unternehmen investieren würden.
Die Kritiker hielten dagegen, dass dieses Standardargument aus dem Lehrbuch für Strommärkte nicht zuverlässig gelte. Die für dieses Argument zwingend erforderlichen Knappheitssituationen im Stromsektor bergen ökonomische und gesellschaftliche Risiken. Zum einen kann bei großer Knappheit der Strom ausfallen: Bei einem unfreiwilligen Stromausfall gibt es aber keinen Preis, den der Markt ermitteln könnte. Wenn also der Strom am wertvollsten ist, kann sich der Stromerzeuger nicht auf die Marktpreise verlassen – ein Marktversagen.
Zum anderen sind Politikeingriffe gerade in Krisensituationen fast unvermeidlich. Die Preise im Strommarkt können schnell sehr hohe Dimensionen erreichen, da es den Stromnachfragern schwerfällt, ihren Verbrauch stark zu drosseln. Diese hohen Preisdimensionen, die damit verbundenen sozialen Verwerfungen sowie die mit Knappheit einhergehende Marktmacht der Erzeuger, machen preisdämpfende Eingriffe durch die Politik wahrscheinlich. Auch im Lichte weltweiter Erfahrungen mit liberalisierten Strommärkten ist es jedenfalls unwahrscheinlich, dass der Markt in der Krise einen Preis ermitteln kann, der die ‚richtigen‘ Investitionsanreize setzt.
Um der Sorge um politische Eingriffe entgegen zu wirken, veröffentlichte der damalige Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel 2015 eigens mit seinen elf „elektrischen Nachbarn“ eine gemeinsame Deklaration: „Die Nachbarstaaten vereinbaren, verstärkt auf die Flexibilisierung von Angebot und Nachfrage zu setzen und dafür Marktsignale und Preisspitzen zu nutzen. Sie kommen darin überein, keine gesetzlichen Preisobergrenzen einzuführen und Flexibilitäts-Barrieren abzubauen.“
Die Vereinbarung der zwölf Nachbarländer hielt genau bis zur Energiekrise letztes Jahr. Der Anstieg der Strompreise führte zu zahlreichen Markteingriffen bis hin zur Abschöpfung der Gewinne. Es ist der Bundesregierung zugutezuhalten, dass sie sich lange gegen einen Eingriff in die Preise ausgesprochen hat.
Die Entwicklung in Europa war aber nicht aufzuhalten. Ein Strommarkt, dessen Zuverlässigkeit von hohen Knappheitspreisen abhängt, ist ökonomisch und politisch zu fragil, als dass er funktionieren könnte. Unternehmen und Investoren haben dies antizipiert – seit der Einführung des Strommarkts wurde in Deutschland kein neues Kraftwerk eigenwirtschaftlich errichtet. Die Regierung musste daher in ihrem Koalitionsvertrag den Zubau der „bis zur Versorgungssicherheit durch Erneuerbare Energien notwendigen Gaskraftwerke“ ankündigen – der Markt hatte nicht geliefert.
Zuverlässigkeit im Fokus
Die Sicherstellung eines ausreichenden sicheren Stromangebots sollte daher an erster Stelle einer Marktreform stehen. Vorschläge für ein robusteres Strommarktdesign liegen vor. Dazu gehören Preissignale im Stromgroßhandel, die die Knappheit adäquat abbilden – auch durch politisch unpopuläre regional ausdifferenzierte Preisbildung. Besonders wichtig ist die Stärkung langfristiger Stromkontrakte und -investitionen.
Eine Möglichkeit wäre ein Kapazitätsmarkt, wie es ihn zum Beispiel in England gibt: Kraftwerksbetreiber bieten in kompetitiven Ausschreibungen um Aufträge für die Bereitstellung von flexibel verfügbarem Strom, der durch physische Erzeugungskapazität abgesichert sein muss. Ein solches Bietverfahren führt dazu, dass der Kapazitätsmarkt sich selbst überflüssig macht, wenn der Strommarkt aus sich heraus bereits genügend Investitionsanreize erzeugen sollte. Bieten könnten nicht nur Stromerzeuger, sondern auch Speicherbetreiber und flexible Nachfrage z.B. aus der Industrie, die sich verpflichten, ihre Nachfrage zu drosseln. Gleichzeitig sollten die Terminmärkte weiterentwickelt werden, auf denen langfristige Stromlieferverträge gehandelt werden. Bei einem geeigneten Design könnten Versorgungssicherheit ermöglicht und Preisspitzen vermieden werden.
Die Konsultation der EU-Kommission beschäftigt sich hauptsächlich mit Instrumenten zur Förderung von erneuerbaren Energien. Die in Deutschland eingerichtete „Plattform Klimaneutrales Stromsystem“, die Vorschläge zu einer grundlegenderen Reform des europäischen und deutschen Strombinnenmarktes erarbeiten soll, sollte den Blick erweitern auf das Fehlen von finanziellen und physischen Absicherungen zum Umgang mit Knappheitssituationen. Das Stromangebot ist fragil. Die notwendige Transformation hin zu einer erneuerbaren Stromwelt und die zunehmenden Wetterextreme aufgrund des Klimawandels führen zu weiteren, systemischen Risiken, die das heutige Strommarktdesign nicht adressiert.
Investitionsanreize in Speicher und flexible Erzeugung sind unzureichend. Inkohärente Energiepolitik und nervöse Reparaturen am Strommarktdesign vergrößern das Problem. Es braucht einen robusten Anreiz für ein gesichertes Stromangebot. Vorschläge für verpflichtende langfristige Verträge für flexible Stromerzeugung und Stromnachfrage zur Versorgungssicherheit stehen ökonomisch auf einer soliden konzeptionellen Grundlage.