Was Top-Ökonomen über eine EZB-Präsidentin Lagarde denken
Von Mark Schrörs, FrankfurtDie Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), Christine Lagarde, soll zum 1. November Mario Draghi an der Spitze der Europäischen Zentralbank (EZB) nachfolgen. Darauf haben sich die EU-Staats- und Regierungschefs geeinigt. Die 63-Jährige wäre nicht nur die erste Frau in dem Job. Sie wäre auch die Erste an der EZB-Spitze, die nicht aus dem Kreis der Euro-Notenbanker im EZB-Rat stammt und die keine volkswirtschaftliche Ausbildung hat. Was halten führende Geldpolitikexperten und Ökonomen von diesem Vorschlag? Eine Umfrage der Börsen-Zeitung gibt Antworten: Lorenzo Bini Smaghi, Ex-EZB-Direktoriumsmitglied und Chairman Société Générale:”Christine Lagarde war eine naheliegende Wahl. Niemand konnte einen solchen Vorschlag angesichts ihrer Erfahrung und ihres Rufs ablehnen. Die Unsicherheit bestand vielmehr darin, ob der Vorschlag auf den Tisch gelegt wird. Nur frustrierte Ökonomen behaupten, dass sie keine ausreichende Ausbildung hat und dass ein PhD erforderlich ist. Es gibt viele promovierte Wirtschaftswissenschaftler, die in den vergangenen Jahren große Fehler bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Situation und beim Verständnis der Rolle gemacht haben, die eine Zentralbank in einer Krise spielen sollte. Von einem EZB-Präsidenten wird nicht nur ein gutes Verständnis der Wirtschaft, sondern auch der Finanzmärkte und ein guter Dialog mit den europäischen Institutionen, insbesondere den wichtigsten Akteuren, erwartet. Mario Draghis Meisterwerk war nicht so sehr die Aussage, dass die EZB bereit sei, ,alles zu tun, was nötig ist’, sondern die Unterstützung des EZB-Rats und der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel sicherzustellen. Christine Lagarde hat gezeigt, dass sie sich mit klugen Menschen umgeben kann, dass sie schnelle Entscheidungen treffen kann, pragmatisch ist und nicht durch dogmatische Vorurteile eingeengt ist. Das ist das Wichtigste.” Jürgen Stark, Ex-EZB-Chefvolkswirt:”Ich schätze Christine Lagarde als Persönlichkeit sehr. Aber sie ist zuallererst Politikerin – das hat auch ihre Ausrichtung im IWF bewiesen. Es ist schwierig, ihre Amtsführung in der EZB vorauszusehen, zumal sie nicht die geringste Expertise in Geldpolitik aufweist, was übrigens auch für den derzeitigen Vizepräsidenten der EZB gilt. Beide haben eine politische Karriere als Finanzminister in ihren jeweiligen Ländern hinter sich. Das lässt befürchten, dass sich die Politisierung der EZB nicht nur fortsetzen dürfte, sondern sich sogar noch verstärken wird. Insgesamt finde ich diesen jüngsten Brüsseler Kuhhandel skandalös. Auf diese Weise stärkt man die Akzeptanz der EU und des Euro nicht, schon gar nicht in Deutschland.” Marcel Fratzscher, Präsident DIW Berlin:”Christine Lagarde ist sehr erfahren, klug und weitsichtig und hat das Potenzial, eine exzellente Präsidentin der EZB zu werden. Ihre große Stärke ist die enorme internationale Erfahrung und ihr politisches Geschick. Sie ist eine hervorragende Kommunikatorin, die es versteht, sowohl mit Finanzmärkten und Politikern als auch mit Bürgerinnen und Bürgern zu kommunizieren. Dies ist eine wichtige Stärke, die für die EZB in diesen schwierigen Zeiten in Europa essenziell ist. In der Geldpolitik wird Frau Lagarde eine steile Lernkurve haben, denn die Aufgaben von Zentralbanken sind technisch komplex und speziell, so dass sie vor allem in schwierigen Zeiten die EZB so klug führen kann, wie Mario Draghi es getan hat.” Markus Brunnermeier, Professor Universität Princeton:”Ich denke, dass Christine Lagarde keine großen Richtungsänderungen vornehmen wird. Zumindest kurzfristig dürfte die EZB-Politik von Kontinuität geprägt sein. In meinen Treffen habe ich Christine Lagarde als offene und zuvorkommende Führungspersönlichkeit kennengelernt, die keine voreingenommenen Doktrinen verfolgt. Die Tatsache, dass sie die Euro-Krise als Chefin des IWF aus erster Hand miterlebt hat und mit vielen Staatsoberhäuptern auf Augenhöhe gut umgehen kann, dürfte sich im Ernstfall als Vorteil erweisen.” Thomas Mayer, Gründungsdirektor Flossbach von Storch Research Institute:”Frau Lagarde ist zweifellos eine exzellente Juristin und politische Beamtin. Während ihrer Amtszeit beim IWF hat sie die Organisation für politische Themen wie Verteilungsgerechtigkeit oder Klimaschutz geöffnet und den eigentlichen IWF-Kern (Überwachung solider Wirtschaftspolitik und konditionale Hilfen zur Anpassung) aufgeweicht. Ich würde daher erwarten, dass sie die Politisierung der EZB, die unter Mario Draghi mit der Aufstellung der EZB als Garant des Euro begonnen hat, fortsetzen wird. Mit Christine Lagarde als EZB-Chefin und Charles Michel als EU-Ratspräsident hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron die personellen Voraussetzungen geschaffen, seine ehrgeizigen Pläne zur engeren Finanzintegration der Eurozone durchzusetzen. Frau von der Leyen würde ihm bestimmt nicht im Weg stehen, falls sie tatsächlich vom EU-Parlament als Kommissionspräsidentin bestätigt wird.” Stefan Gerlach, Ex-Vizepräsident der irischen Zentralbank und Chefvolkswirt EFG Bank:”Frau Lagarde ist für die Position gut qualifiziert. Sie verfügt über ein umfassendes Verständnis des Euroraums. Sie verfügt zudem über ein ausgezeichnetes Verhandlungsgeschick und diplomatische Fähigkeiten, und sie wird wahrscheinlich sehr effektiv bei der Erzielung breiter Vereinbarungen im EZB-Rat sein. Ihr dürfte es auch gelingen, die Regierungen zu einem stärkeren Einsatz der Fiskalpolitik zu drängen, wenn die derzeitige Konjunkturschwäche zu einer ernsthafteren Verlangsamung oder Rezession wird. Natürlich ist sie keine Geldpolitikerin, aber es besteht nicht die Notwendigkeit, dass alle Mitglieder des Vorstands Geldökonomen sind. Das Problem ist, dass auch der Vizepräsident, Herr de Guindos, keine Expertise im Zentralbankwesen hat. In normalen Zeiten ist die Festlegung der Geldpolitik nicht schwierig. Das Problem entsteht, wenn eine Krise eintritt und vergangene Faustregeln nicht mehr funktionieren. Im Krisenfall besteht daher ein erhebliches Risiko einer zu geringen und späten Reaktion. Herr Draghi, der über eine Ausbildung in Wirtschaftswissenschaften und viel Markterfahrungen verfügt, hatte das nötige Selbstvertrauen, um zu handeln. Wird Frau Lagarde das auch haben? Die Ansichten von Frau Lagarde dürften denen von Präsident Draghi sehr ähnlich sein. Wir können für einen längeren Zeitraum mit einer expansiveren Politik rechnen, als wenn Herr Rehn oder Herr Weidmann nominiert worden wären.” Gunther Schnabl, Professor Universität Leipzig:”Christine Lagarde hat keinen geldpolitischen Hintergrund, sondern war zuvor in Frankreich Ministerin für Finanzen und Wirtschaft. Dies deutet an, dass sich die europäische Geldpolitik von der in den europäischen Verträgen verankerten unabhängigen, stabilitätsorientierten Geldpolitik deutscher Prägung weiter entfernen wird. Sie nähert sich der Geldpolitik französischer und italienischer Prägung an, die einen wesentlichen Beitrag zur Finanzierung der Staatsausgaben und der Wirtschaftspolitik geleistet hat. Anhaltend niedrige Zinsen nehmen den Druck von Unternehmen, die Produktivität zu erhöhen, und sie treiben die Vermögenspreise nach oben. Deshalb werden die Löhne in ganz Europa unter Druck geraten sowie die gesellschaftlichen und politischen Spannungen weiter zunehmen.” Vitor Constâncio, Ex-EZB-Vizepräsident und Professor Universität Lissabon:”Wichtig ist, dass Frau Lagarde Erfahrung in der Leitung einer großen Institution hat. Sie ist eine sehr gute Kommunikatorin, sie wird im Finanzsektor respektiert und sie hat immer die mutige Politik der EZB unterstützt. All dies gewährleistet Kontinuität und die Tatsache, dass die EZB alles in ihrer Macht Stehende tun wird, um den Euro zu schützen.” William White, Ex-BIZ-Chefvolkswirt und OECD-Berater:”Ich hoffe, dass Frau Lagarde anerkennt, dass monetäre Stimuli nicht die Antwort auf alle Probleme Europas sind, wie bisher angenommen wurde, und dass eine vernünftige Mischung aus Umschuldung und Schuldenerlass, Steuererleichterung und Strukturreformen erforderlich ist, um ein nachhaltiges Wachstum wiederherzustellen. Entgegen der landläufigen deutschen Meinung kann fiskalische Sparpolitik als Reaktion auf frühere Exzesse unter Umständen zu tiefen Rezessionen und noch größeren Schulden des Staates führen.” Peter Bofinger, Professor Universität Würzburg:”Frau Lagarde wird eine sehr gute EZB-Präsidentin werden. Sie hat zwar kein ökonomisches Studium, aber das wird durch ihre langjährige Erfahrung als Managing Director des IWF mehr als wettgemacht. Zudem hat sie mit Philip Lane einen exzellenten Volkswirt im EZB-Direktorium.” Volker Wieland, Wirtschaftsweiser und Professor Universität Frankfurt:”Mit Christine Lagarde wird eine erfahrene Managerin das Ruder bei der EZB übernehmen. Ihre Stärken sind der Hintergrund als Juristin sowie als erfolgreiche Politikerin und Finanzministerin. Beim IWF hat sie ihre Expertise in den internationalen Finanzbeziehungen weiter ausgebaut. Erfahrung als Notenbankerin bringt sie nicht mit, zudem ist sie keine ausgebildete Ökonomin. Beides unterscheidet sie stark von Mario Draghi, der mit einem PhD in Economics und langen Jahren als Notenbankpräsident und Mitglied des EZB-Rates glänzen konnte. Das macht einen Unterschied, ganz unabhängig davon, ob sie ähnliche oder andere geldpolitische Überzeugungen mitbringt. Zusammen mit Vizepräsident Luis de Guindos werden dann zwei Personen, deren Stärke in ihrem Hintergrund als Politiker liegt, die EZB führen. Es wäre zumindest für die weiteren Ernennungen, die in den nächsten Monaten und Jahren anstehen, wichtig, wieder verstärkt Ökonominnen und Ökonomen mit geldpolitischem Hintergrund zu berufen.”