Weglächeln ist nicht mehr

Vorstandsvorsitzende präsentieren sich auf Hauptversammlungen selbstkritisch und nachdenklich - aber zugleich leidenschaftlich

Weglächeln ist nicht mehr

Von Detlef Fechtner, FrankfurtEinfach in die Menge strahlen und mit den Jacketkronen blitzen, das war gestern. Wenn nicht gar vorgestern. Zum Führungsstil eines modernen Managers passt es jedenfalls nicht mehr, Probleme wegzulächeln.Wer als Vorstandsvorsitzender eines Dax-Unternehmens heute noch in seiner Rede vor der Hauptversammlung die Konzernkennziffern schön- und folgenreiche Fehlentscheidungen kleinzureden versucht, setzt sich dem Vorwurf aus, die Anteilseigner nicht wirklich ernst zu nehmen. Um diesem Verdacht vorzubeugen, haben viele Chief Executive Officers in der zurückliegenden HV-Saison gar nicht erst auf die Fragerunde gewartet, um das anzusprechen, was nicht so rund lief im Unternehmen. Reumütig und bußfertigSo startete beispielsweise Post-Chef Frank Appel seine Rede anlässlich der Hauptversammlung 2019 in geradezu reumütigem Ton: “Bringen wir es auf den Punkt. Wir haben viel Neues begonnen. Und zu wenig für das eigentliche Geschäft getan. Das rücken wir im Moment wieder gerade.” Fresenius-CEO Stephan Sturm gab sich – im Rückblick auf 2018 – beim routinemäßigen frühsommerlichen Auftritt vor den Aktionären ebenfalls ausgesprochen selbstkritisch: “Wir mussten unsere Prognosen nach unten anpassen. Zweimal sogar. Das ist absolut nicht unser Anspruch. Und ich sage ganz klar: Das hat mich – auch persönlich – sehr geärgert.”Auch jede Menge andere Top-Manager begegneten den Anteilseignern bußbereit: “T-Systems – hier habe ich Fehler gemacht. Wir haben den Markt zu optimistisch eingeschätzt” (Timotheus Höttges/Deutsche Telekom). Oder: “Trotzdem ist unsere Freude nicht ungetrübt. Wir haben viele Kunden enttäuschen müssen” (Carsten Spohr/Lufthansa). Die Liste ließe sich noch lange fortsetzen. Botschaften – kurz und knappDas Bemühen, nicht lange um den heißen Brei herumzureden, spiegelt sich auch im Redestil wider: kurz und knapp. Kaum einer unter den Vorstandsvorsitzenden der börsennotierten deutschen Top 30, der episch formuliert. Ganz im Gegenteil: Subjekt, Prädikat, Objekt. Punkt. Wenn überhaupt.Häufig klangen die Manager bei den Hauptversammlungen im abgelaufenen Jahr, als würden sie Telegramme verlesen. Beispielsweise Merck-Chef Stefan Oschmann: In seinem Vortrag vor den Anteilseignern Ende April waren die Sätze im Schnitt weniger als sechs Worte lang. Zum Vergleich: Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier brauchte bei seiner Weihnachtsansprache vor wenigen Tagen mehr als doppelt so viele Worte, um zum (nächsten) Punkt zu kommen.Damit noch lange nicht genug mit den Gemeinsamkeiten in Duktus und Rhetorik. Auffällig nämlich, dass zum Selbstverständnis des modernen Vorstandschefs dazuzugehören scheint, dass er “persönlich” das Wort ergreift. Wie etwa Beiersdorf-CEO Stefan de Loecker, der seine Hauptversammlungs-Premiere erst einmal zu einer persönlichen Vorstellung nutzte – “für die, die mich noch nicht kennen”. Oder stellvertretend für viele Adidas-Chef Kasper Rorsted, der seiner HV-Rede auch dadurch Empathie und Emotionalität verlieh, indem er direkte Bezüge herstellte: “Lassen Sie mich zu einem Thema kommen, das auch mir persönlich sehr am Herzen liegt.” Die Botschaft, die den Aktionären vermittelt werden soll, lautet: Hier sind keine kaltherzigen Geschäftsleute am Ruder, die nur auf den Profit oder sogar nur auf den eigenen Bonus schielen, sondern leidenschaftliche Gestalter, für die der Beruf zugleich Berufung ist.Nicht umsonst tauchen in den Ansprachen der CEOs reichlich Begriffe auf, die man eigentlich eher in Poesiealben oder Romanen vermuten würde: “Voller Herzblut”, “mit aller Kraft”, “mit Leidenschaft”. So gewährte etwa Christian Sewing in den einführenden Worten seiner Rede beim Aktionärstreffen den Anteilseignern einen kurzen Blick in sein Innenleben: Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank zu sein, sei “das ganze Programm”: anspruchsvoll, fordernd, überraschend, bisweilen sehr emotional, manchmal aufreibend, “aber eben auch durch und durch erfüllend und sinnstiftend”.Folgerichtig lauten die Schlüsselbegriffe in nahezu allen Ansprachen der Top-Manager in der zurückliegenden Hauptversammlungssaison nicht Rendite, Erfolg oder Marktführerschaft, sondern Verantwortung und Nachhaltigkeit. Verantwortung beispielsweise “für rund eine Million Menschen, die bei uns zu Hause sind” (Rolf Buch/Vonovia). Und vor allem “Verantwortung für viel längere Zeiträume” (Theodor Weimer/Deutsche Börse). Denn es geht im Jahr 2019, in dem sich bekanntlich mehr als 180 US-amerikanische Chief Executive Officer in einem gemeinsamen Brief öffentlich vom Primat des Shareholder Value abgekehrt haben, selbstverständlich nicht mehr nur um die Interessen der Aktionäre. Sondern auch um die Interessen der Gesellschaft. Also um eine Wirtschaft, die Wert schafft und achtsam mit Ressourcen umgeht.Ein großer Teil der Dax-Vorstandschefs hat sich vor diesem Hintergrund bei den Aktionärstreffen des Jahrgangs 2019 nachdenklich präsentiert und den Themen Nachhaltigkeit und gesellschaftliche Verantwortung breiten Raum gewidmet. Um zugleich Entschlossenheit zu demonstrieren, enthalten die Hauptversammlungsreden jede Menge Ansagen für unternehmensindividuelle Klimaziele: SAP sieht sich auf “bestem Wege” (Bill McDermott), “unser Versprechen zu halten, bis 2025 klimaneutral zu sein”. Siemens stellt dieses Ziel für das eigene Unternehmen 2030 in Aussicht. Der nun scheidende Henkel-Manager Hans Van Bylen kündigte im Frühjahr an, dass 100 % der Verpackungen von Henkel-Produkten “in den nächsten Jahren” recycelbar, wiederverwendbar oder kompostierbar sein werden. Derweil hat VW-CEO Herbert Diess nichts Geringeres versprochen als den “bisher ehrgeizigsten und weitreichendsten Klimaschutzansatz in unserer Industrie”.Dass das alles freilich kein Kinderspiel sein wird, darauf weisen die Vorstandschefs sehr deutlich hin. Immerhin – in diesem Punkt herrscht weitgehend Einvernehmen unter den Chefs im Dax – stehe ihren Unternehmen nicht nur die eine oder andere Anpassung bevor, sondern eine “Transformation”, eine “Erneuerung”, “ein “Umbruch” – und zwar ein “historischer”. Wer zaudernd stehenbleibe, werde überholt – so lautet die Warnung, die in ähnlicher Formulierung immer und immer wieder auftaucht. Im Grunde müsse sich jedes Unternehmen täglich “neu erfinden”.Aber glücklicherweise – so betonen es die Vorstandschefs in ihren HV-Ansprachen – sei da ja ein digitaler Wandel im Gange, der die Chance biete, Lösungen zu finden. Der Schlüssel für die Zukunft, so lautet eine zentrale Botschaft der abgelaufenen HV-Saison, liege in der strategischen Verknüpfung von Digitalisierung, Innovation und Nachhaltigkeit. Umweltschutz durch Technik also. Oder auch Fortschritt durch Rückbesinnung auf langfristige gesellschaftliche Werte.Und so steht am Ende vieler Ausführungen der Vorstandsvorsitzenden das Bekenntnis zur langfristigen – eben nachhaltigen – Orientierung. Und dies nicht allein auf der Grundlage wirtschaftlicher Kennziffern, sondern gesellschaftlicher Ziele und Werte. “Wir brauchen Haltung”, heißt diese Losung etwa bei BMW. Andere sprechen von “Purpose”, also von “Zweck” – oder etwas literarischer formuliert: “Bestimmung”. “Purpose” zählt damit zu einem der Wörter des Jahres 2019, die andere abgelöst haben. Denn vom “Mission Statement” früherer Tage spricht kaum mehr jemand (siehe Kasten). Bei der Umsetzung der Strategie bauen Unternehmen derweil – um ein anderes Modewort aufzugreifen – auf eine “agile” Organisation – umtriebig, beweglich, wendig und nie im Stillstand. VertrauensfragenBleibt die Frage, wer all die schönen Worte – von Agilität bis Transformation – mit Leben füllt. Für diese Aufgabe kommen natürlich nur die Beschäftigten in Frage, die deshalb von den Vorstandschefs nach allen Regeln der Sprachkunst motiviert werden. Kaum ein CEO, der das eigene Personal nicht in den höchsten Tönen lobt und sich um das große “Wir” bemüht. Mit den “Henkelanern” und “Telekomerinnen”, den “Siemensianern” und “Beiersdorfern” – die, wenn man den CEO Glauben schenkt, auf das volle Vertrauen der Führungsriege bauen können. Ob umgekehrt auch die Vorstände das volle Vertrauen der Beschäftigten genießen, ist – angesichts der vielerorts mit den Transformationen und Umbrüchen einhergehenden Personalanpassungen – alles andere als sicher.