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Wendejahr für das Klima

Klimaziele drohen 2020 außer Reichweite zu geraten - USA steigen aus Pariser Abkommen aus

Wendejahr für das Klima

Von Stefan Paravicini, BerlinDas Jahr 2020 gilt unter Klimaexperten als Jahr der Wende. Von einem “Superjahr für das Klima” ist die Rede. Wer mag, kann als anekdotischen Beweis dafür das Programm des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos heranziehen, bei dem kurz nach dem Jahresauftakt die Herausforderungen durch den Klimawandel zum ersten Mal an oberster Stelle stehen werden. Der Besuch der Klimaaktivistin Greta Thunberg vor bald einem Jahr scheint in den Schweizer Alpen nachzuhallen.”Super” im Sinne von “besonders” ist mit Blick auf das Klima im neuen Jahr allerdings nur, was alles auf dem Spiel steht. Bislang sieht es nämlich nicht danach aus, dass 2020 eine Wende zum Positiven gelingt. Stattdessen droht zum Ende des Klima-Superjahrs der Super-GAU in der Klimadiplomatie, sollte die Klimakonferenz der Vereinten Nationen in Glasgow im November die Tradition der meisten Vorgängerveranstaltungen wie auch der jüngsten Klimakonferenz in Madrid fortsetzen und hinter den Erwartungen zurückbleiben. Klimavertrag mit AmbitionenEs geht um viel. Fünf Jahre nach der Einigung auf das Weltklimaabkommen in Paris ist die Staatengemeinschaft gefordert, in Glasgow -wie im Klimavertrag vorgesehen – zum ersten Mal ihre nationalen Klimabeiträge (NDCs) anzupassen, damit die 2015 vereinbarten Klimaziele erreicht werden können. Mehr als 100 Staaten haben im Rahmen der sogenannten Climate Ambition Alliance bereits angekündigt, dieser Forderung nachzukommen, oder haben ihre Klimaziele schon über die in Paris vereinbarten Werte angehoben. Die Tatsache, dass sich UN-Generalsekretär António Guterres im Herbst dazu genötigt sah, eine solche Allianz unter der Führung von Chile anzustoßen, sagt allerdings einiges über die Ambitionen der Weltgemeinschaft insgesamt aus.Die größten Emittenten von Klimagasen, allen voran China und die USA, haben sich denn auch noch nicht darauf festgelegt, ihre NDCs anzuheben. Aus Peking gibt es dazu ermutigende Zeichen. Die Vereinigten Staaten, die vor wenigen Wochen die erste Möglichkeit wahrgenommen haben, nach der Ankündigung von US-Präsident Donald Trump nun auch offiziell ihren Austritt aus dem bereits ratifizierten Klimaabkommen von 2015 in die Wege zu leiten, dürften im Falle eines Wahlsiegs Trumps 2020 bereits aus dem Vertrag ausgeschert sein, wenn die Verhandlungen in Glasgow beginnen. Der früheste Termin für den Austritt liegt wenige Tage vor der Klimakonferenz. Note “kritisch unzureichend”Die Europäische Union (EU) hat sich zwar gerade dazu durchgerungen, Klimaneutralität als Ziel bis 2050 auszurufen. Dass sich das von der Kohle geprägte Mitgliedsland Polen diesem Ziel angeschlossen hat, ohne sich darauf zu verpflichten, das Ziel zu erreichen, zeigt aber, dass noch viel Arbeit vor der EU-Kommission liegt, die in den nächsten Monaten den von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen beworbenen “Green New Deal” konkretisieren will. Will Bundeskanzlerin Angela Merkel sich in Glasgow noch einmal als “Klimakanzlerin” präsentieren, muss sie die europäische Klima-Agenda während der deutschen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte voranbringen.Stand heute werden die Klimaanstrengungen der EU vom Wissenschaftsportal “Climate Tracker” als “unzureichend” bewertet. Im Vergleich mit den USA (“kritisch unzureichend”) und China (“in hohem Maß unzureichend”) schneidet die Staatengemeinschaft damit noch gut ab. Für die in Paris vereinbarten Ziele – eine Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich weniger als 2 Grad bis Ende dieses Jahrhunderts im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter – reicht das aber nicht. Derzeit läuft die europäische Klimapolitik nach Einschätzung des von Climate Analytics (Berlin) und New Climate Institute (Köln) zusammen mit dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung (PIK) betriebenen Climate Tracker auf eine Erwärmung von bis zu 3 Grad Celsius hinaus. Letzte Ausfahrt 2-Grad-PfadDie Zeit drängt. Denn das Jahr 2020 markiert nach Ansicht vieler Klimawissenschaftler die letzte Chance, den Pfad zu ihren Klimazielen zu erreichen. Schießt die Erderwärmung darüber hinaus, erwarten die meisten Experten katastrophale Folgen für viele Ökosysteme und kaum beherrschbare Dominoeffekte. “Innerhalb der nächsten Jahre kann die Welt nicht geheilt werden. Durch Vernachlässigung könnte sie aber bis 2020 tödlich verwundet werden”, warnte der deutsche Klimaforscher Hans Joachim Schellnhuber deshalb schon 2017, als er noch an der Spitze des PIK stand.Will die Weltgemeinschaft den Pfad eines gebremsten Klimawandels erreichen, müsste bereits im nächsten Jahr eine Trendumkehr bei den globalen Treibhausgasemissionen gelingen, wie es etwa in dem 2017 veröffentlichten Bericht “The Climate Turning Point” unter Bezug auf Zahlen des Intergovernmental Panel on Climate Change heißt. Die knapp 37 Mrd. Tonnen Kohlendioxid (CO2), die nach Schätzungen des Carbon Disclosure Project (CDP) im zurückliegenden Jahr in die Atmosphäre gelangt sind, müssten den Höhepunkt der globalen Treibhausgasemissionen markieren. Der weitere Pfad der Emissionen müsste je nach Klimamodell spätestens bis zum Jahr 2050 beim Ziel Klimaneutralität ankommen.Anzeichen dafür gibt es – abgesehen von Ankündigungen der Klimapolitik – keine. Fast die Hälfte des von Menschen freigesetzten CO2 ist nach 1990 in die Atmosphäre gelangt, als bereits für eine Begrenzung der Erderwärmung unter 2 Grad Celsius geworben wurde. Es dauerte bis 2010, bis sich die Weltgemeinschaft in Cancún auf dieses Ziel verständigen konnte, ohne sich auf konkrete Maßnahmen zu einigen. Die Klimawissenschaftler waren da in ihrer Mehrheit längst zur Überzeugung gelangt, dass auch eine Erwärmung um 2 Grad Celsius katastrophale Folgen haben könnte. In Paris wurde fünf Jahre später nachgebessert – ohne nachhaltige Wirkung auf die Klimagasemissionen.Nach Angaben des CDP sind die CO2-Emissionen in den vergangenen drei Jahren kontinuierlich gestiegen, nachdem sie von 2014 bis 2016 auf der Stelle traten. Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre liegt nach Angaben der World Meteorological Organization (WMO) im Vergleich mit dem Jahr 1750 fast bei 150 %. Vergleichbare Verhältnisse herrschten laut WMO zuletzt vor 3 bis 5 Millionen Jahren, als es 2 bis 3 Grad wärmer war und der Meeresspiegel zwischen 10 und 20 Metern höher lag. Der letzte mögliche Wendepunkt, um ein ähnliches Szenario zu vermeiden, könnte 2020 an der Weltgemeinschaft vorüberziehen.