ANSICHTSSACHE

Wie könnte Deutschland seine Staatsschulden tilgen?

Börsen-Zeitung, 31.8.2012 Überall in der westlichen Welt sind die Staatsschulden zu hoch. Die Gläubiger vieler Länder sind unsicher geworden, ob sie den vereinbarten Kapitaldienst noch termingerecht erhalten. Das führt nicht nur zu steigenden...

Wie könnte Deutschland seine Staatsschulden tilgen?

Überall in der westlichen Welt sind die Staatsschulden zu hoch. Die Gläubiger vieler Länder sind unsicher geworden, ob sie den vereinbarten Kapitaldienst noch termingerecht erhalten. Das führt nicht nur zu steigenden Zinsen, sondern auch zu Problemen bei der Anschlussfinanzierung für fällig werdende Altkredite. Für unser Land muss man sich darüber aktuell keine Sorgen machen, weil Sicherheit suchendes Kapital aus der ganzen Welt nach Deutschland drängt. Wir haben aber ein erhebliches Risiko für die Zukunft: Selbst bei völligem Verzicht auf jede Neuverschuldung brauchen wir Jahr für Jahr über 300 Mrd. Euro an neuen Krediten, um fällig werdende Altschulden abzulösen. Das entspricht der Hälfte unseres gesamten Steueraufkommens. Werden die Gläubiger auch noch in zehn oder 15 Jahren so viel Geld in deutschen Staatspapieren anlegen? Niemand weiß das. Wir kennen nur die Folgen: Wer die Anschlussfinanzierung nicht mehr realisieren kann, hat sofort “griechische Verhältnisse”.Damit dies nicht passiert, sollten wir jetzt in guten Zeiten die Grundlagen legen durch Fortentwicklung der Schuldenbremse zu einer politisch stabilen Schuldentilgung. Dafür folgendes Konzept:Alle bis zu einem Stichtag (etwa dem 1. Januar 2014) aufgelaufenen “Altschulden” von Bund und Ländern werden durch das Grundgesetz einer unabhängigen “Deutschen Finanzagentur” zur Verwaltung übertragen. Die Agentur erhält eigene Steuereinnahmen für die Verzinsung zu Lasten der jeweiligen Gebietskörperschaft – mindestens in der Höhe des Vorjahres. Für die Tilgung werden ihr die “heimlichen Steuererhöhungen” aus der kalten Progression zur Verfügung gestellt, 0,2 % des Bruttoinlandsprodukts (BIP) des Vorjahres, ansteigend um 0,2 Prozentpunkte jährlich auf maximal 2 % des BIP. Hinzu kommen ersparte Zinsen. Das führt zu einer behutsamen, sozial gerechten und konjunkturverträglichen Tilgung der Altschulden: 5 Mrd. im ersten Jahr, 10 Mrd. Euro im zweiten, ansteigend auf etwa 70 Mrd. Euro jährlich ab dem zehnten Jahr. Im ersten Jahrzehnt würden so rund 350 Mrd. Euro getilgt, im zweiten über 900 Mrd. und im dritten Jahrzehnt der Rest. Eine Überprüfungsklausel im Grundgesetz könnte sicherstellen, dass die Tilgung in 20 Jahren den dann aktuellen Erfordernissen angepasst wird.Auch nach dem Stichtag können neue Kredite zwingend erforderlich werden, z. B. zum Ausgleich unerwarteter konjunkturbedingter Haushaltsbelastungen oder zur Verteilung großer Haushaltslasten auf mehrere Jahre. Dadurch dürfen sich aber keine neuen Schuldenberge auftürmen. Es muss sichergestellt werden, dass alle nach dem Stichtag entstehenden “Neuschulden” in einer vernünftigen Zeit auch wieder abgebaut werden. Dafür wird folgende Grundgesetzregelung vorgeschlagen: Alle Neuschulden werden ohne Ausnahme in den normalen Etats verbucht – das heißt auf Schattenhaushalte wird verzichtet. Am Ende eines Haushaltsjahres wird wie bisher eine Nettokreditaufnahme festgestellt. Diese wird aber nicht auf dem Schuldenberg der Geschichte entsorgt, sondern durch eine entsprechend hohe Ausgabenposition buchhalterisch in den jeweiligen Folgehaushalt übertragen. Das wiederholt sich so lange, bis die gesamte seit dem Stichtag angefallene Neuverschuldung durch “Haushaltsüberschüsse” in der herkömmlichen Diktion endgültig ausgeglichen, sprich getilgt ist. Dafür, dass dies in einer angemessenen Zeit von höchstens vier Jahren tatsächlich auch geschieht, sorgt die Androhung vollautomatischer, harter Sanktionen. Dabei heißt “vollautomatisch”: ohne jede Diskussion oder Verhandlung. Zur Anwendung dieser Sanktionen käme es vermutlich nie, weil es für die politischen Akteure “alternativlos” wäre, die Verfassung buchstabengetreu einzuhalten.Für besonders große unabweisbare Haushaltsbelastungen – wie EU-Hilfen des Bundes, ein großes Konjunkturprogramm oder Naturkatastrophen -, die vernünftigerweise nicht im normalen Etat bis zur Auslösung von Sanktionen getilgt werden können, ist eine Sonderregelung erforderlich. Für Bund und Länder könnte man eine derartige Haushaltsbelastung annehmen, wenn die dadurch verursachten Schulden 1 % des jeweiligen BIP übersteigen. Diese “großen Neuschulden durch besonderen Anlass” könnten der Finanzagentur mit einfacher Mehrheit von Bundestag und Bundesrat zugewiesen und dort einer im Grundgesetz festgelegten Sondertilgung von jährlich 0,2 % des jeweiligen BIP unterworfen werden. Der nötige Kapitaldienst würde von der Deutschen Finanzagentur aus dem Steueraufkommen der betroffenen Gebietskörperschaft zusätzlich abgerufen.Den Gemeinden müssten gleiche Regeln durch die Länder vorgeschrieben werden. Für deren Erlass und Einhaltung hätten die Länder zu haften. Im Grundgesetz würden die nötigen Sanktionen vorgeschrieben.Das Konzept ist kein Baukasten, aus dem man einzelne Teile herausnehmen kann. Es macht nur Sinn als Gesamtkonzept. Eine Tilgung der Staatsschulden in der Zeit, in der viele Bürger ihr Eigenheim abbezahlen, können wir uns in Deutschland leisten. Wir brauchen dafür weder Steuererhöhungen noch Ausgabenkürzungen. Das historische Zeitfenster steht offen. Das Konzept stärkt das Vertrauen der Gläubiger in die deutsche Finanzpolitik. Und mehr Vertrauen heißt grundsätzlich geringere Zinslast für die Schuldner. Tilgung befreit unsere Kinder und Enkel von Zinsausgaben, die unsere und die vorige Generation verursacht haben. Das wäre ein fairer Ausgleich für ihre demografisch bedingte Mehrbelastung. Die Finanzindustrie würde an geringeren Staatsschulden weniger verdienen, und “die Politik” hätte weniger an “Wohltaten” zu verteilen. Beides wäre hinnehmbar. Auf der europäischen Bühne könnten Kanzlerin und Finanzminister erneut durch Vorbild führen und, wie schon mit der Schuldenbremse, auch bei der Schuldentilgung Nachahmungseffekte auslösen.Tilgung ist möglich. Fangen wir damit an!—-Dr. Manfred Overhaus war von 1993 bis 2004 Finanzstaatssekretär des Bundes. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.——–Von Manfred Overhaus ——-Tilgung befreit unsere Kinder von Zinsausgaben. Das wäre ein fairer Ausgleich für ihre demografisch bedingte Mehrbelastung.