GASTBEITRAG

Wie Lagarde Draghis EZB reparieren kann

Börsen-Zeitung, 26.10.2019 Mario Draghis letzter Auftritt als Präsident des EZB-Rats war geprägt von Auslassungen, die seine Leistungen würdigten. Insbesondere seine herausragende Rolle bei der Transformation der EZB wurde herausgestellt sowie sein...

Wie Lagarde Draghis EZB reparieren kann

Mario Draghis letzter Auftritt als Präsident des EZB-Rats war geprägt von Auslassungen, die seine Leistungen würdigten. Insbesondere seine herausragende Rolle bei der Transformation der EZB wurde herausgestellt sowie sein beherztes Auftreten, das entscheidend dazu beitrug, eine potenziell existenzielle Bedrohung des Euro abzuwenden. Das war nicht anders zu erwarten.Die freundliche Verabschiedung darf jedoch nicht den Blick dafür verstellen, dass Christine Lagarde eine Institution übernimmt, die noch nie so bitter gespalten war wie eben jetzt. Im Nachgang zur Entscheidung im September, als die geldpolitischen Zügel erneut gelockert wurden, brach sich eine nie da gewesene Welle öffentlich ausgetragenen Dissenses der Ratsmitglieder Bahn. Eine Reihe von nationalen Zentralbankern trug ihre grundlegende Opposition vor aller Augen aus. Die niederländische Zentralbank ging sogar so weit, eine Erklärung zu veröffentlichen, welche die September-Entscheidung als unangemessen und wirkungslos brandmarkte. Die interne Kritikerin Sabine Lautenschläger trat von ihrem Posten im Direktorium zurück. Ratsmitglieder aus Staaten, auf die über die Hälfte der Wirtschaftskraft der Währungsunion entfallen, kritisierten die Entscheidung öffentlich. Der Widerstand erfasst dabei nicht nur die traditionellen Hardliner: Selbst die Repräsentanten Frankreichs und, etwas vorsichtiger, Italiens meldeten ernsthafte Bedenken an. Zuletzt wurde erstmals in der Geschichte der Bank auch gezielt die vertrauliche Information an die Öffentlichkeit lanciert, dass vorbereitende interne Komitees von einer Wiederaufnahme der Anleihekäufe ausdrücklich abrieten. Der Fehdehandschuh ist hingeworfen.Natürlich ist es wünschenswert, dass schwierige monetäre Entscheidungen in den relevanten Gremien kontrovers diskutiert werden. Allerdings legten die letzten Wochen Spannungen offen, die über analytische Meinungsverschiedenheiten hinausgehen: Die wachsende Unzufriedenheit richtet sich auch auf die Art und Weise, wie in Draghis EZB Entscheidungen gefällt wurden. Eine zunehmende Zahl der Ratsmitglieder erscheint verdrossen, dass Draghi in öffentlichen Verlautbarungen Fakten schafft, die allenfalls in seinem engsten Zirkel zuvor erörtert wurden. So wies Draghi persönlich in der September-Pressekonferenz gleich zu Beginn darauf hin, dass alle getroffenen Maßnahmen im Einklang mit seiner Rede im Juni in Sintra stünden. Das hinterlässt bei anderen Ratsmitgliedern den Eindruck, dass ein eigentlich als kollegial konzipiertes Gremium bei der Entscheidungsfindung ausgehebelt wird: Sie haben gefühlt kaum eine Möglichkeit, hinter den von Draghi geweckten Erwartungen zurückzubleiben, ohne destabilisierende Turbulenzen auf den Finanzmärkten zu riskieren. Der Riss ist sein ErbeDer Riss innerhalb der EZB ist Teil von Draghis Erbe. Sollte er nicht gekittet werden, kann dies mittelfristig negative Folgen für die Glaubwürdigkeit der europäischen Geldpolitik nach sich ziehen. Es gibt jedoch gute Gründe, hoffnungsvoll zu sein, dass die Heilung gelingen könnte. Lagarde ist dafür die richtige Person zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Sie hat keine Erfahrung als Zentralbankerin, sondern machte als Juristin ihre Karriere in der Politik. Diese Erfahrung könnte sich nun als nützlich erweisen. Politik ist die Kunst des Kompromisses. Lagarde selbst hat wissen lassen, dass sie keine Organisation kennt, die gut funktioniert, wenn sie gespalten ist. Eine solche Spaltung erwartet sie nun in Frankfurt. Ihre vergangenen Leistungen als Moderatorin sind verheißungsvoll. Sie hat als Direktorin des IWF gezeigt, dass sie aus einem Strauß diverser Interessen eine kohärente Führungsriege zusammenzimmern kann, die die Episode des tumulthaften Abgangs von Dominique Strauss-Kahn rasch in Vergessenheit geraten ließ. Im Währungsfonds wurde sie allenthalben für ihre Fähigkeit gelobt, zuzuhören, Konsens zu schmieden und alle relevanten Spieler in zentrale Entscheidungen einzubinden. Diese Fähigkeiten sind jetzt erneut gefragt. Spürbarer UnterschiedLagardes Stil wird sich von Draghis spürbar unterscheiden. Trotzdem hat sie sich festgelegt, den geldpolitischen Kurs ihres Vorgängers fortführen zu wollen. Die Falken wird auch sie diesbezüglich wohl kaum an Bord bekommen. Trotzdem kann sie die Wunden heilen, indem sie Ratsmitgliedern eine stärkere Stimme gibt, damit sie sich nicht mehr in der “außerparlamentarischen Opposition” Gehör verschaffen müssen. Ein erster Schritt auf diesem Wege wäre die Veröffentlichung der Abstimmungsergebnisse, wie es bei anderen führenden Zentralbanken gemeinhin üblich ist. Die elastischen Formulierungen der veröffentlichten Sitzungszusammenfassungen sind kein Ersatz für echte Transparenz. Tatsächlich wird in keinem der “accounts” des Jahres 2019 auf irgendwelche Abstimmungen auch nur Bezug genommen. Bei Pressekonferenzen bemühen sich Journalisten rituell, Draghi zu entlocken, wie denn die Mehrheitsverhältnisse gewesen seien. Die Antworten, die sie ebenso rituell erhalten, sind günstigstenfalls nebulös. Bisweilen wird lapidar mitgeteilt, dass eine Abstimmung gar nicht erfolgt sei.Dieses Vorgehen beraubt die Ratsmitglieder einer Stimme und feuert die Flammen der Frustration an. Im Ergebnis sieht sich die Minderheit zunehmend versucht, sich unilateral korrodierender Kritiken hinzugeben. Die Effektivität jedweder geldpolitischen Entscheidung kann davon nur Schaden nehmen. Wenn sie die EZB stabilisieren und die Rebellen wieder einfangen will, muss Lagarde ihnen ihre Stimme (zurück-)geben.Die Publikation des aktuellen Abstimmungsverhaltens ist aber nur der halbe Weg. Denn wenn die Stimmen gezählt werden, wird die Einschätzung jedes einzelnen Ratsmitglieds an Bedeutung gewinnen. Von daher könnte die regelmäßige Publikation eines sogenannten “dot-plot” ratsam sein, in dem etwa die Gouverneure der Federal Reserve individuell ihre Ansicht zu Protokoll geben, welche Entwicklung der Leitzinsen sie für die Zukunft erwarten. Dieses Vorgehen ist nicht nur ein effektives institutionalisiertes Instrument, um die Vielfalt der Meinungen zu dokumentieren und Marktteilnehmern eine bessere Einschätzung zukünftiger Zinsentwicklungen zu erlauben, es reduziert auch die Dominanz des Präsidenten oder der Präsidentin, indem es dem Standpunkt jedes Einzelnen mehr Gewicht beimisst.Um die Gräben zu überwinden, wird Lagarde Diplomatie und Geduld benötigen. In Anbetracht ihrer Erfahrung und ihres Charakters kann ihr diese Aufgabe gelingen. Die Wiederherstellung eines vertrauensvolleren internen Umgangs und Disziplin könnten ihr stolzester Erfolg sein, wenn sie eines Tages die Schlüssel an ihre Nachfolge übergeben wird. Moritz Kraemer, Chief Economic Advisor bei Acreditus in Dubai, zuvor Global Chief Rating Officer bei Standard & Poor’s (S&P)