Wie schlecht geht es Russlands Wirtschaft wirklich?
Von Stefan Reccius, Frankfurt
Lexus, Volvo, Fiat, Porsche, Honda: Automarken aus aller Welt waren beliebt bei den Russen und Verkaufsschlager in den Autohäusern. Vorbei. Die Verkäufe ausländischer Fabrikate sind bis Mitte des Jahres teilweise fast auf null abgestürzt, zeigen Zahlen aus der Branche. Auch Volkswagen will sein Werk in der Stadt Kaluga laut einem Bericht abstoßen. Von heimischen Autobauern bekommen Russen, sofern sie sich überhaupt noch ein Auto leisten können oder wollen, mindere Qualität: Bei Herstellern wie Awtowas laufen Berichten zufolge inzwischen Autos ohne ABS, Airbags und Klimaanlage vom Band – weil Komponenten fehlen.
Der Einbruch am Automarkt verdeutlicht die allgemeine wirtschaftliche Misere in Russland im Zuge des Angriffskriegs gegen die Ukraine. Der Massenexodus ausländischer Unternehmen und die westlichen Sanktionen „verkrüppeln die russische Wirtschaft“: Zu diesem Fazit kommen Wirtschaftswissenschaftler der Universität von Yale in einer viel beachteten Studie. Ihre Erkenntnisse lassen massive Zweifel an der in Russland offiziell vertretenen Sichtweise und auch an den Einschätzungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) aufkommen, dass es um die russische Wirtschaft angeblich nicht so schlecht bestellt ist wie erwartet.
Die russische Zentralbank rechnet nur noch mit einem Minus von 4 bis 6% im laufenden Jahr, nachdem sie anfänglich bis zu −10% befürchtet hatte. Der IWF erwartet mit −6% zwar eine stattliche Rezession, hat seine Prognose aber jüngst um 2,5 Prozentpunkte angehoben. Die Ökonomen des Analysehauses Capital Economics schätzen den Rückgang des Bruttoinlandsprodukts auf Basis jüngster Daten aus Industrie und Einzelhandel für 2022 auf 7%. Glaubt man neuesten Angaben des Wirtschaftsministeriums in Moskau, ist das Bruttoinlandsprodukt im zweiten Quartal um gerade einmal 4% gesunken.
All das scheint die weit verbreitete Lesart zu bestätigen, dass die westlichen Sanktionen eher schleichend wirken, statt auf einen Schlag die russische Wirtschaft zu verheeren. Die Ökonomen aus Yale halten das für „schlichtweg unwahr“. Sie verweisen darauf, dass Moskaus Statistiker auf Geheiß der Regierung seit Kriegsbeginn deutlich weniger Wirtschaftsdaten veröffentlichen. Stattdessen setzen die Forscher auf eine Palette „unkonventioneller“ Daten aus Einzelhandel und Industrie, auf Statistiken russischer Handelspartner und aus der Schifffahrt.
Auf diese Weise finden die Yale-Ökonomen rote Warnlampen, wohin sie nur schauen: Nicht nur der russische Automarkt ist demnach im freien Fall. Hochfrequenzindikatoren der Großbank Sberbank zeigten, dass Einzelhandelsumsätze und Verbraucherausgaben im Frühjahr binnen Wochen um ein Fünftel zum Vorjahresniveau eingebrochen seien (siehe Grafik). Im ersten Quartal sei die Wertschöpfung quer durch Industrie und Dienstleister eingebrochen, im Baugewerbe sowie in Land-, Forstwirtschaft und Fischerei sogar um mehr als die Hälfte.
Weitere Daten zeigten, dass Teile der Industrieproduktion regelrecht zum Stillstand gekommen seien, weil Zulieferungen aus dem Ausland fehlen. Das sorge für Dominoeffekte in anderen Branchen. Die Autobranche ist wegen komplexer Wertschöpfungsketten und Tausender Teile ein gutes Beispiel. Den Analysen aus Yale zufolge ist die Produktion von Kraftfahrzeugen auf russischem Boden bis Mai um drei Viertel kollabiert, die Fertigung in der Zulieferindustrie um mehr als die Hälfte.
Das erklärte Ziel von Kremlchef Wladimir Putin war, den Wegfall von Importen durch heimische Produktion aufzufangen. Nach Auffassung der Ökonomen aus Yale ist dieses Wunschdenken krachend gescheitert. Auch die Hoffnung, China möge verstärkt einspringen, hat sich ausweislich von Peking publizierter Handelsströme nicht erfüllt: Peking liefert deutlich weniger nach Russland – so wie Moskaus Importe insgesamt sinken. Das zeigen Daten der russischen Zentralbank bereits.
Noch profitiert Moskau als Rohstoffmacht von hohen Energiepreisen. Nach wie vor kassieren dem Kreml nahestehende Unternehmen Milliarden. Doch auch damit wird es absehbar vorbei sein.
Devisenreserven schrumpfen
Finanziell geht es bereits abwärts. Allein für das erste Quartal meldet die russische Zentralbank Kapitalabflüsse aus dem Privatsektor in Höhe von um die 70 Mrd. Dollar. Tatsächlich dürften sie nach Ansicht von Experten höher sein. Und siehe da: Gerade hat die Notenbank ihre Prognose für Kapitalabflüsse im laufenden Jahr um 95 Mrd. Dollar auf 246 Mrd. Dollar angehoben.
Russlands einst üppige Fremdwährungsreserven sind seit März um 75 Mrd. Dollar gefallen. Von den verbliebenen Reserven liegt mehr als die Hälfte im Ausland – wo sie durch Sanktionen eingefroren sind. Inzwischen hat die Zentralbank nur noch Zugriff auf schätzungsweise weniger als 300 Mrd. Dollar. Und das Finanzministerium musste Berichten zufolge mehr als ein Drittel eines Staatsfonds für schlechte Zeiten anzapfen, um Löcher im Haushalt zu stopfen.