LEITARTIKEL

Wiedergeburt der Linken

Ein Ergebnis der Wahl in Großbritannien droht angesichts der katastrophalen Niederlage von Theresa May übersehen zu werden: Jeremy Corbyn hat Labour zu einem nicht weniger spektakulären Erfolg verholfen, insbesondere bei jüngeren Wählern. Es ist die...

Wiedergeburt der Linken

Ein Ergebnis der Wahl in Großbritannien droht angesichts der katastrophalen Niederlage von Theresa May übersehen zu werden: Jeremy Corbyn hat Labour zu einem nicht weniger spektakulären Erfolg verholfen, insbesondere bei jüngeren Wählern. Es ist die Wiedergeburt der britischen Linken. Die auf die Mitte der Gesellschaft zielende Politik Tony Blairs und Ed Milibands gehört der Vergangenheit an. Die neue Labour-Linie ist Podemos und Syriza viel näher als der deutschen Sozialdemokratie, die sich mit einem Brüsseler Apparatschik an der Spitze kaum von den Christdemokraten abzuheben vermag.Nach Jahrzehnten am Gängelband des Establishments bläst bei Labour auf einmal ein ganz anderer Wind. Konzepte wie Dritter Weg und Neue Mitte landen auf dem Müllhaufen der Geschichte. Die vielen neuen Parteimitglieder wollen nicht mehr darauf warten, dass die aufstiegsorientierte Mittelschicht ihr soziales Gewissen entdeckt. Vertreter solcher Ideen wie der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, dessen Aufstieg unter Blair wohl unaufhaltsam gewesen wäre, sind in der Partei zunehmend isoliert. Stattdessen geben Linke wie Corbyn, Diane Abbott und John McDonnell den Ton an.May hatte sich wohl auf Meinungsforscher verlassen, die ihr einen Erdrutschsieg zusprachen, und gehofft, sich ein starkes Mandat für die EU-Austrittsverhandlungen mit Brüssel verschaffen zu können. Dabei ging sie davon aus, dass andere Themen als der Brexit bei dieser Wahl keine große Rolle spielen würden. Sie wurde nicht müde, den Briten zu versichern, dass das Land Brüssel nur unter ihrer starken und stabilen Führung die Stirn bieten könne. Offenbar hatte sie Probleme sich vorzustellen, warum so viele Menschen für den Ausstieg aus der Staatengemeinschaft gestimmt haben. Kein Wunder, May war schließlich für den Verbleib. In der irrigen Annahme, damit Stimmen gewinnen zu können, rückte sie das Thema Zuwanderung in den Vordergrund, das beim EU-Referendum eine große Rolle gespielt hatte. Die Menschen votierten aber meist nicht aus nationalem Kleingeist oder Rassismus für den Brexit. Die unkontrollierte Einwanderung von EU-Bürgern hatte dazu geführt, dass Kindergärten, Krankenhäuser und Schulen vielerorts völlig überlastet waren. Unternehmen warben gezielt Billigarbeitskräfte aus Osteuropa an, um die Löhne zu drücken. Labour konnte offenbar vermitteln, dass über Jahre nicht ausreichend in die öffentliche Infrastruktur investiert wurde, die Schuld für die Missstände also nicht bei den Zuwanderern zu suchen ist. Corbyns Partei konnte deshalb in den traditionellen Arbeiterregionen eine Menge Stimmen von denjenigen einsammeln, die ihr Kreuz zuletzt bei der UK Independence Party gemacht hatten. Die Konservativen vermochten dagegen trotz großer Anstrengungen bei diesen Wählern kaum zu punkten.Labour machte die Wahl zur Abstimmung über die Sparpolitik der Tories. Der ehemalige Schatzkanzler George Osborne hatte die schwarze Null im Staatshaushalt zum Dogma erhoben. Vom Bondmarkt hatte es keine Signale gegeben, die eine solche Politik erforderlich gemacht hätten. Sozialleistungen wurden gnadenlos gekürzt. Die Verkehrsinfrastruktur platzt aus allen Nähten. Das Gesundheitswesen ist chronisch unterfinanziert. May kündigte in ihrem Wahlprogramm weitere schmerzhafte Einschnitte an: Abschaffung der kostenfreien Mittagessen für Schüler in den ersten Grundschuljahren und des Heizkostenzuschusses für Pensionäre, die bislang ohne Prüfung der Bedürftigkeit gewährt wurden, Beteiligung von Hausbesitzern an den Kosten der häuslichen Pflege. Da platzte wohl vielen Wählern der Kragen. Plötzlich standen bei der vermeintlichen Brexit-Wahl soziale Themen ganz oben auf der Agenda. Selbst die Terroranschläge von Manchester und London konnte Labour mit der Sparwut der Tories in Zusammenhang bringen. Schließlich wurden 20 000 Planstellen bei der Polizei gestrichen, als May Innenministerin war.Die Konservativen agierten zaghaft und wankelmütig, als sie mit ihrem Versuch, die künftigen Kosten der Altenpflege auf die Tagesordnung zu setzen, Schiffbruch erlitten. Nachdem sich ein islamistischer Terrorist auf einem Popkonzert in Manchester in die Luft gesprengt hatte, erhöhte May die Terrorwarnstufe und rief die Armee zu Hilfe. Tage später wurden die Soldaten aber schon wieder zurück in die Kasernen geschickt und behauptet, der Attentäter habe wohl alleine gehandelt. Corbyns Wähler dürften dagegen Klarheit und konsequentes Handeln erwarten.——–Von Andreas HippinBei der Wahl in Großbritannien ging es nicht um den Brexit. Die Bürger straften Theresa May für die aggressive Sparpolitik ihrer Partei ab und wählten links.——-