LEITARTIKEL

Wiederinbetriebnahme der EU

Na klar, noch ist nicht entschieden, ob Deutschland erneut von einer großen Koalition regiert werden wird. Aber allein der Abschluss der Sondierungen von Christdemokraten, Christsozialen und Sozialdemokraten hat Beifall und Erleichterung in Brüssel...

Wiederinbetriebnahme der EU

Na klar, noch ist nicht entschieden, ob Deutschland erneut von einer großen Koalition regiert werden wird. Aber allein der Abschluss der Sondierungen von Christdemokraten, Christsozialen und Sozialdemokraten hat Beifall und Erleichterung in Brüssel und einigen nationalen Hauptstädten der EU ausgelöst. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron zeigte sich “glücklich und zufrieden”, Italiens Ministerpräsident Paolo Gentiloni sprach ebenso wie Österreichs Kanzler Sebastian Kurz von einer “guten Nachricht für Europa”. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker schwärmte gar von einem “sehr erheblichen, positiven, konstruktiven, zukunftsorientierten, zielführenden Beitrag zur europapolitischen Debatte”. So viel Lob für eine Regierungsbildung ist ungewöhnlich – umso mehr, da es sich ja nur um einen Zwischenschritt handelt. Doch dafür gibt es zwei gute Gründe – mindestens.Erstens dürfte den Nachbarregierungen ebenso wie den Profieuropäern gut gefallen haben, was CDU, CSU und SPD in ihrem Sondierungspapier über die EU verlautbart haben. Einmal abgesehen davon, dass das Thema formal an erster Stelle steht: Auch inhaltlich ist das Bekenntnis zum Staatenbund in seiner Klarheit bemerkenswert, gerade angesichts der Tatsache, dass man derzeit dafür auf den Marktplätzen der Republik wenig Applaus erwarten kann. Das gilt im Besonderen für die Ansage, die EU auch finanziell stärken zu wollen.Vieles von dem, was sich Angela Merkel, Horst Seehofer und Martin Schulz gemeinsam vornehmen, ist nicht revolutionär. Dafür gibt es indes auch keinen Anlass. Dass die EU komplett umgekrempelt oder neu erfunden werden muss, behaupten vorzugsweise Wissenschaftler, die immer schnell mit dem Ruf nach dem ganz großen Wurf sind, oder Oppositionspolitiker, die sich darauf verlassen können, nie in die Verlegenheit zu kommen, ihre Forderungen tatsächlich umsetzen zu müssen.Die meisten Ziele, die sich Christ- und Sozialdemokraten gesetzt haben, reagieren auf recht konkreten Bedarf nach politischen Lösungen – etwa im Kampf gegen aggressive Steuervermeidung. Wenn überhaupt, dann gibt es nur einen potenziell radikalen Punkt im Papier der Sondierer, nämlich die Verankerung des zum Währungsfonds weiterentwickelten Euro-Rettungsfonds ESM im Unionsrecht. Das muss zwar nicht, aber das könnte eine gewisse Vergemeinschaftung des Euro-Rettungsmanagements und eine Machtverschiebung etwa bei der Bewilligung von Milliardenhilfen bedeuten. Allein: Einer Entmachtung der nationalen Parlamente steht schon das Bundesverfassungsgericht im Wege – und gewiss manch andere nationale Regierung. Hier wird es darauf ankommen, wie die künftige Bundesregierung, so sie denn zustande kommt, diese Überlegungen in die politische Wirklichkeit übersetzt.Der zweite Grund, warum Europa den Etappenerfolg auf dem Weg zur großen Koalition bejubelt, ist, dass die Europäische Union nach Führung lechzt. Zwar haben sich die Befürchtungen in Brüssel, dass erklärte EU-Gegner wie Geert Wilders oder Marine Le Pen im Superwahljahr 2017 triumphieren, nicht bewahrheitet. Der Aufstieg rechtsnationaler politischer Kräfte schränkt aber die Möglichkeiten vieler Regierungen ein, sich auf europäische Kompromisse einzulassen. Zudem haben Großbritanniens Abkehr von der EU und Polens Ignoranz gegenüber rechtsstaatlichen Bedenken grundsätzliche Diskussionen über die Bindungswirkung der EU provoziert. Das verunsichert und hat dazu geführt, dass Entscheidungen vertagt wurden und die EU zuletzt in den Leerlauf geraten ist. Damit wiederum ist die Sorge gewachsen, Deutschland könnte im Falle einer Neuwahl durch Stimmengewinne von EU-Gegnern seine Rolle als Motor der europäischen Einigung einbüßen. Entsprechend groß ist die Erleichterung, dass die Sondierer zumindest einen Etappenerfolg melden.Mit den Vorarbeiten für eine Neuauflage der großen Koalition verbindet sich nicht die Vorstellung eines großen Integrationssprungs oder gar die Idee der Vereinigten Staaten von Europa. Sondern die Hoffnung, dass die EU wieder in Betrieb genommen wird. Nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Die nächste Bundesregierung tut aus eigenem Interesse gut daran, diese Führungsrolle aktiv anzunehmen – und zwar so bald wie möglich. Denn ein Blick in den politischen Kalender zeigt, dass es für ein deutsch-französisches Tandem schon ab Ende dieses Jahres wieder viel schwieriger werden dürfte, Kompromisse über erforderliche Erneuerungen oder Ergänzungen in der EU zu initiieren, zu vermitteln und durchzusetzen.——–Von Detlef FechtnerEin Grund, warum Europa den Etappenerfolg auf dem Weg zur großen Koalition bejubelt, ist, dass die Europäische Union nach Führung lechzt.——-