IM INTERVIEW: ALEXEJ ULJUKAJEW

"Wir befinden uns am Scheideweg"

Russlands Wirtschaftsminister mahnt ernsthafte Reformen im Land an und warnt vor zu viel Euphorie nach der US-Wahl

"Wir befinden uns am Scheideweg"

Russland feiert angesichts des Wahlsiegs von Donald Trump. Es gibt aber auch mahnende Stimmen im Land. Eine davon ist Wirtschaftsminister Alexej Uljukajew. Im Interview der Börsen-Zeitung warnt er vor zu viel Euphorie, da diese schon einmal zur Ernüchterung geführt habe. Aber auch Uljukajew sieht Trump als Chance und die Zeit für ein Ende der Sanktionen gekommen. Russland stehe allerdings ein steiniger Weg bevor.- Das russische Parlament hat die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten mit Applaus quittiert. Sie auch?Ich würde vor Euphorie warnen. Ich erinnere mich an die vielen Erwartungen, als vor acht Jahren Barack Obama gewählt wurde. Das Ergebnis war dann ein völlig anderes. Daher braucht man weder Applaus noch überflüssige Erwartungen. Wir verstehen, dass hier eine neue Seite in der Entwicklung Amerikas aufgeschlagen wird. Wie sie aussehen wird, wissen wir nicht. Jetzt muss erst einmal Trump seinen wirtschaftspolitischen Kurs und seine Berater bestimmen. Wir werden das genau verfolgen und wünschen dem amerikanischen Volk und seiner Führung erst mal Erfolg. Wir sind unsererseits bereit, alles dafür zu tun, um die russisch-amerikanischen Beziehungen auf Wirtschaftsebene zu verbessern.- Nehmen wir die Moskauer Börse am Mittwoch: Im Gegensatz zum weltweiten Trend hat sie gleich am Vormittag ins Plus gedreht. Ist der Wahlausgang also als positiv für Russland anzusehen?Ich habe schon früher gesagt, dass der makroökonomische Effekt durch die US-Wahl nicht sehr groß sein wird. Die Märkte haben das Wahlergebnis so wohl nicht erwartet. In Russland waren die Ausschläge eben geringer. Jetzt braucht es einfach eine gewisse Zeit, bis sich der Markt der neuen Realität bewusst wird.- Was ist die neue Realität?Wir werden erst mit der Zeit verstehen, was aus der US-Handelspolitik oder dem Freihandelsabkommen TTIP wird. Die bisherige Reaktion war nur eine emotionale – die vergeht schnell.- Aber es ist kein Geheimnis, dass das offizielle Russland zwar vielleicht nicht auf Trump gesetzt hat, aber doch zu verstehen gegeben hat, dass es Trump bevorzugt. Warum eigentlich?Russland hat auf niemanden gesetzt und auch niemanden bevorzugt. Aber es besteht die Möglichkeit, dass Trump frei ist von jenen Verpflichtungen, die Hillary Clinton auf sich genommen hat, weil sie ins jetzige Entscheidungssystem eingebettet ist. Trump ist freier von diesem System. Wie er mit dieser Freiheit umgeht, wissen wir natürlich nicht. Aber zumindest hat er alle Möglichkeiten.- Nicht zufällig gehen viele Beobachter in Moskau davon aus, dass Russland mit Trump etwas mehr Chancen verbindet, ein Ende der Wirtschaftssanktionen auszuhandeln. Sehen Sie das auch so?Ich kann nur sagen, dass sich ein “window of opportunity” öffnet. Wie wir es nützen, hängt von uns und von unseren Partnern ab. Aber wir sind bereit, alles dafür zu tun, diese Möglichkeit zu nützen.- In Wirklichkeit kann es ohnehin nur besser werden.Wissen Sie, das ist wie das Gespräch zwischen einem Optimisten und einem Pessimisten. Der Optimist sagt, es kann nur besser werden. Der Pessimist denkt, es kann nur noch schlechter werden. Tatsächlich ist unser Verhältnis mit den USA auf einem derart niedrigen Niveau, dass es logischerweise mehr Chancen für eine Verbesserung als für eine Verschlechterung gibt. Ich will aber noch keine Schlüsse ziehen.- Sie selbst waren soeben in Italien und in Österreich. Man hat den Eindruck, Sie fühlen vor, was sich in Europa in Sachen Sanktionen tut. Es ist ja paradox, mit den USA erwartet Russland eine Verbesserung, mit Europa ist man auf dem Weg zu zusätzlichen Sanktionen. Wovon zeugt das?Wir leben leider in einer Welt, in der die Wirtschaft von der Politik abhängt und unter ihr leidet. Die Politik lebt irgendein anderes Leben. Zum Glück hat die Wirtschaft gelernt, mit unterschiedlichen Bedingungen zu überleben – und zwar auch mit diesen. Daher haben die Sanktionen für uns mittlerweile nur noch symbolischen Charakter. Im ersten Jahr taten sie weh, jetzt nicht mehr. Freilich wäre es gut, wenn es keine Sanktionen gäbe. Aber es ist keine zentrale Frage in unserer Politik. Makroökonomisch ist das nicht wesentlich.- Sie sprechen von lediglich symbolischem Charakter. Aber ich möchte daran erinnern, dass Ex-Finanzminister Alexej Kudrin kürzlich bei einer Besprechung mit Kremlchef Wladimir Putin leise angedeutet hat, dass es sich vielleicht lohne, die geopolitische Spannung im Interesse des Wirtschaftswachstums zu verringern. Putin wies die Idee forsch zurück. Wer von beiden hat Recht?Das Leben wird es zeigen. Natürlich lohnt es sich, die Spannungen zu verringern. Aber das gelingt nicht einseitig, sondern nur gemeinsam mit dem Partner. Wir sind bereit, uns ernsthaft zu bewegen, aber die andere Seite muss auch bereit sein.- Sie haben dieser Tage gesagt, Sie sehen in Europa keinen guten Willen in Sachen Beseitigung der Sanktionen. Wie kommen Sie darauf?Ich sehe es auf unterschiedlichen Ebenen unterschiedlich ausgeprägt. Auf nationaler Ebene gibt es diesen guten Willen – zumindest in den meisten Staaten des sogenannten alten Europa. In den neuen EU-Ländern ist es etwas anders. Auf supranationaler Ebene in Brüssel ist dieser gute Wille durch die Bürokratie erstickt.- Russland geht also davon aus, dass die Sanktionen noch jahrelang bleiben werden?Wir gehen davon aus. Sollten die Sanktionen aufgehoben oder transformiert werden, wäre das ein zusätzliches Positivum. Aber darauf zählen können wir nicht.- Also haben Sie nicht das Gefühl, dass wir uns in Europa Richtung Aufhebung der Sanktionen bewegen?Bislang nicht. Wir befinden uns am Scheideweg und könnten in diese Richtung gehen.- Warum gerade jetzt?Weil sich eine riesige Müdigkeit diesbezüglich auf allen Seiten breitgemacht hat.- In Europa wie in Russland?Hier wie dort. Die Geschäftswelt möchte es sehr. Dazu kommen die Veränderungen in letzter Zeit wie das Brexit-Votum und jetzt die US-Wahlen. Das schafft das Gefühl einer neuen Realität. Ich will nicht sagen, ob das gut oder schlecht ist. Es ist einfach etwas Neues. Und im Neuen tun sich mehr Möglichkeiten für eine Bewegung auf.- Welche Möglichkeiten sehen Sie, trotz der Sanktionen den Wirtschaftskontakt mit Europa zu forcieren? Ich denke etwa an spezielle Investitionsverträge, die Russland eingeführt hat, um Investoren ins Land zu locken.Das ist etwas anderes und hat mit den Sanktionen nichts zu tun. Das ist reine Ökonomie. Ja, wir wollen, dass Investoren in Russland produzieren – und zwar nicht nur für den russischen Markt, sondern auch für den globalen.- Bis etwa 2013 waren der Ölpreis und der Konsum die Hauptmotoren für die russische Wirtschaft, ehe die Rezession kam. Welche können es künftig sein?Es gibt ja grundsätzlich nur drei Motoren: die Konsumnachfrage, die Investitionsnachfrage und den Export.- Der Konsum jedenfalls kommt nicht so recht in die Gänge.Sagen Sie das nicht. Er steigt durch die sinkende Inflation und durch die Zunahme der nominellen Einkommen. Natürlich braucht es Zeit. Aber ich denke, im nächsten Jahr läuft der Konsum wieder. Der Umsatz im Handel wird wachsen und im Anschluss daran die Produktion. Mit dem Export ist es schwieriger. Uns interessiert ja nicht der Rohstoffexport, denn es bestehen so gut wie keine Chancen, dass der Rohstoffmarkt wieder sehr gut wird. Wir schätzen, dass der Ölpreis in den kommenden zwei Jahren bei etwa 50 Dollar je Barrel liegen wird. Uns interessiert der Export von Nicht-Rohstoffen, was wir von der Regierung her auch unterstützen. Aber wir müssen auch verstehen, dass der Import schnell wächst. Im Moment wächst er sogar schneller als der Export, was auch logisch ist, denn durch die Rubelabwertung brach der Import ein, und jetzt startet er eben von niedrigerem Niveau aus.- Bleibt die Frage nach der Investitionsaktivität in Russland.Daran arbeiten wir intensiv. In Russland haben Sie traditionell hohe Sparvermögen, die nicht in Investitionen gehen. Das Sparvermögen liegt bei etwa 30 % des Bruttoinlandprodukts (BIP), die akkumulierten Investitionen hingegen betragen 19 bis 20 % des BIP. Diese riesige Diskrepanz ergibt ein Potenzial für das Wachstum. Und um die potenziellen Investitionen in reale zu überführen, müssen wir das Investitionsklima verbessern. Wir haben gute Fortschritte etwa im Geschäftsklimaranking “Doing Business” der Weltbank gemacht. Aber wir verstehen, dass das nur ein Abbild der Realität ist, nicht die Realität. Wir müssen auf diesem Weg eben weitergehen.- Was die russischen Wirtschaftsaussichten betrifft, so wird man aus Ihren Prognosen nicht ganz schlau. Im Oktober haben Sie diese zweimal geändert. Nun wissen wir, dass eine davon ausschließlich für die Erstellung eines ausgeglichenen Budgets gemacht wurde. Aber welcher soll man glauben?Ich rate, sich an die Variante “Basis+” zu halten. Dort veranschlagen wir für 2017 ein Wachstum von 1,1 %.- Immerhin bestätigen auch die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) und die Weltbank, dass die Talsohle der Krise durchschritten ist.Ich verwende den Begriff der Talsohle nicht.- Worauf ich hinauswill: Die meisten Experten sagen dem Land trotz Ende der Rezession eine lange Stagnation voraus, sofern keine wesentlichen Reformen umgesetzt werden.Das ist eine Frage der Definition. Ich teile die Einschätzung vieler, dass wir relativ leicht die Diskrepanz zwischen potenziellem und faktischem Output überwinden können. Das Potenzialwachstum ist bei uns derzeit nicht hoch – es liegt bei 2 bis 2,5 %. Um darüber hinaus zu wachsen, braucht es in der Tat ernsthafte strukturelle und institutionelle Reformen.- Ich nehme an, dazu gehört die Pensionsreform.Genau.- Das Problem ist allen Experteneinschätzungen zufolge nur, dass das Land vor der Präsidentenwahl 2018 keine solche Reform angehen wird. Da Sie heute schon einmal das Wort Scheideweg erwähnt haben: Gehe ich recht in der Annahme, dass auch Russland vor einer schwierigen Entscheidung steht, nämlich ob es sich auf den Reformweg macht?Absolut richtig.- Kürzlich hat die russische Antimonopolbehörde eruiert, dass sich die Staatsquote in der Wirtschaft binnen zehn Jahren verdoppelt hat und heute sage und schreibe 70 % der Wirtschaft in Staatshänden befinden.Die Behörde übertreibt. Real werden es so 45 bis 50 % sein. Aber das ist natürlich auch sehr viel.- Welches Ausmaß wäre denn für Russland vernünftig und akzeptabel?Das kann man nicht so genau bestimmen. Es kommt auch darauf an, wie man zählt. Aber ich denke, dass die Staatsquote wesentlich geringer sein muss.- Ich habe das Thema auch angeschnitten, weil im Moment viel über Privatisierung in Russland geredet wird. Der Prozess ist nicht sehr eindeutig, weil stellenweise ein Staatsunternehmen ein anderes im Namen der Privatisierung aufkauft.Dass der Ölkonzern Rosneft die Staatsbeteiligung am eigenen Konzern aufkauft, ist vielleicht nur eine temporäre Entscheidung, und der Anteil wird dann im nächsten Jahr an ausländische Investoren weiterverkauft.- Das ist bereits fix?Bislang ist nichts fix, es gibt nur einen Vorschlag. Aber es kann ja gar nicht anders sein.- Sie waren früher Vizechef der russischen Zentralbank. Sagen Sie uns: Was ist Ihres Erachtens der Spielraum der Zentralbank, die den Leitzins ja auf 10 % hält, diesen zu senken?Der Spielraum ist natürlich da.- Auch schon in diesem Jahr, zumal die Inflation auf 5,5 bis 5,7 % sinkt?Ich denke, auch in diesem Jahr. Aber die Zentralbank denkt anders. Eine Zentralbank geht gewöhnlich davon aus, dass der Schlüsselzinssatz 250 bis 300 Basispunkte über der Inflationserwartung in einer bestimmten Periode liegt. Unsere Zentralbank erwartet für das nächste Jahr eine Inflation von 4 %. Folglich müsste aufgrund ihrer eigenen Vorstellung der Leitzins bereits jetzt bei 7 bis 7,5 % liegen.- Und warum senkt sie ihn nicht auf dieses Niveau ab?Weil sie sich leider vom instrumentellen Inflationsziel leiten lässt. Dieses beträgt 4 % für 2017. Mit dem “Inflation Targeting” will man die Volatilität der Inflation ausgleichen. Die Kollegen der Zentralbank überbewerten dieses instrumentelle Ziel, und sie tun alles, um schnell zu diesem Ziel zu gelangen. Es kommt uns teuer zu stehen, dass wir den Leitzins nicht senken.- Der russische Staat gilt als absolut niedrig verschuldet. Nun haben Sie vor Kurzem gesagt, man könne getrost die Verschuldung auf 25 % des BIP erhöhen. Ist das für ein rohstoffabhängiges Land nicht bereits gefährlich?In der Tat betragen die Staatsschulden bei uns derzeit 12 % des BIP, von denen 2 % Auslandsschulden sind. Das Risiko ist sehr gering. Man kann also getrost Schulden vor allem im Inland aufnehmen, zumal es einen Liquiditätsüberschuss gibt. Das wäre gut für Banken, die ihre Mittel in zuverlässige und einträgliche Aktiva anlegen könnten. Es wäre auch gut fürs Budget, das dann ausgeglichen wäre, ohne zu neuen Steuern greifen zu müssen. Ich denke wohlgemerkt nicht, dass wir schnell bei einer Verschuldung von 25 % des BIP landen werden, denn das ist ein weiter Weg. Aber selbst wenn wir ihn gingen, so wäre es nicht schlimm.—-Das Interview führte Eduard Steiner.