BREXIT - IM GESPRÄCH: PATRICK MINFORD, ECONOMISTS FOR BREXIT

"Wir brauchen überhaupt kein Abkommen mit der EU"

Der ehemalige Wirtschaftsweise über die Vorzüge des Freihandels, die Fehler im Brexit-Modell des Schatzamts und die Auswirkungen eines Austritts auf die City

"Wir brauchen überhaupt kein Abkommen mit der EU"

Den Gegnern der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens wird immer wieder vorgeworfen, die wirtschaftlichen Folgen eines Austritts außer Acht zu lassen. Der ehemalige Wirtschaftsweise Patrick Minford hat klare Vorstellungen, wie es nach dem Brexit weitergehen soll: Freihandel statt Protektionismus. Dafür brauche man auch kein neues Handelsabkommen mit Brüssel.Von Andreas Hippin, LondonPatrick Minford hat sein Feldlager in einem kleinen Café in unmittelbarer Nähe des Londoner Bahnhofs Paddington aufgeschlagen. Hier trifft sich der Ökonom aus Cardiff mit seinen Gesprächspartnern, wenn er in der britischen Metropole zu tun hat. Seit der Gründung von Economists for Brexit ist das öfter der Fall. Es sei ihm und seinen Kollegen einfach darum gegangen, das Niveau der wirtschaftspolitischen Debatte um die EU-Mitgliedschaft zu heben, sagt der ehemalige Wirtschaftsweise im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Das Brexit-Lager sei nicht besonders gut darin gewesen, die Fakten zu erläutern. Deshalb habe man die Gruppe ins Leben gerufen, der neben Minford auch Roger Bootle, der Chairman von Capital Economics, und Tim Congdon, ein weiterer ehemaliger “Wise Man”, angehören.”Viele Menschen glauben, der gemeinsame Markt sei eine wunderbare Sache, er ermögliche freien Handel”, sagt Minford. “Dabei handelt es sich um einen Handelsblock, umgeben von einem protektionistischen Schutzwall. Die EU ist eine Zollunion.” Zwar befänden sich innerhalb dieser geschützten Zone alle auf einem ebenen Spielfeld. “Das Preisniveau in dieser Zone ist aber höher als auf dem Weltmarkt, weil es eine protektionistische Zone ist”, sagt Minford. “Das ist sehr teuer für die Verbraucher und für die Branchen, die nicht geschützt werden.” Es sei dagegen großartig für die Branchen, die geschützt werden. Zölle spielen keine RolleDie gebetsmühlenartig wiederholte Annahme, Großbritannien müsste nach einem EU-Austritt ein Handelsabkommen mit der EU aushandeln, weist er zurück. Das sei lediglich gute Öffentlichkeitsarbeit der Befürworter des Verbleibs in der Staatengemeinschaft. “Wir bestreiten das. Wir brauchen überhaupt kein Abkommen mit der EU abzuschließen”, sagt Minford, der einst mit seinem Forschungsteam an der Universität Liverpool das sogenannte Liverpool-Modell entwickelt hat, das erste auf rationalen Erwartungen beruhende Modell einer Volkswirtschaft.”Uns ist wirklich egal, ob die EU diesen oder jenen Zoll erhebt. Wir handeln ohnehin zum Weltmarktpreis. Diese Zölle sorgen am Ende nur dafür, dass es für die Verbraucher innerhalb der EU teurer wird. Das ist deren Problem. Wir betreiben einfach globalen Freihandel zu Weltmarktpreisen. Das ist besser, als Teil einer protektionistischen Zollunion zu sein.” Natürlich sei er sich darüber im Klaren, dass wir nicht in einer perfekten Welt leben. “Wir würden vermutlich eine Anti-Dumping-Abgabe auf Stahl einführen wie die USA.” Das stehe nicht im Widerspruch zur Freihandelspolitik.”Handelsabkommen ändern nichts an der Größe unserer Branchen”, sagt Minford. “Sie leiten den Handel nur um. Wenn man mit dem einen nicht handeln kann, dann macht man eben mit dem anderen Geschäfte. Auf den Preis wirkt sich das nicht aus.” Das dazugehörige Theorem handele von “der Wichtigkeit, nicht wichtig zu sein”. Garbage in, garbage outObwohl Großbritannien die fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt sei, stehe sie nur für 3 % des weltweiten Bruttoinlandsprodukts. “Im Vergleich zu den Weltmärkten ist unsere Industrie also verschwindend klein. Das ist großartig. Es bedeutet, dass wir Handelsabkommen nicht brauchen. Das haben wir versucht zu erklären, weil viele Menschen allgemeine Gleichgewichtstheorie nicht so gut verstehen wie wir. Würde sich der Preis eines Mercedes oder Jaguar weltweit ändern, weil ein kleines Land wie Ruralitania darauf Zölle erhebt? Wohl kaum.”Von den Berechnungen des Schatzamts, nach denen jeder britische Haushalt nach einem Brexit um 4 300 Pfund schlechter gestellt wäre, hält Minford nicht viel. “Wenn Sie Ihr Modell kennen, wissen Sie ziemlich genau, was herauskommen wird und was Sie dafür hineinstecken müssen”, sagte er. “Garbage in, garbage out”, laute ein geflügeltes Wort dafür.Die Volkswirte des Schatzamts hätten enorme Datenmengen zur Entwicklung des Handels und der ausländischen Direktinvestitionen (FDI) ausgewertet, um die Auswirkungen der EU-Mitgliedschaft zu analysieren. “Dann sagen sie, wenn wir aus der EU austreten, kehren wir den Effekt des Beitritts um.” Sie erhielten erwartungsgemäß weniger FDI und weniger Handel. Das fütterten sie in eine Produktivitätsgleichung und erhielten weniger Produktivität. Die langfristigen Effekte der niedrigeren Produktivität steckten sie dann in ein Makromodell des National Institute of Economic and Social Research (NIESR). Dadurch erhielten sie den dynamischen Pfad.Auch die OECD verwendete das NIESR-Modell. Als die meisten Länder der EU beitraten, taten sie das von einem hohen Niveau des Protektionismus aus, sagt Minford. “Die Methode des Schatzamts unterstellt die Rückkehr zu einem hohen Niveau des Protektionismus”, erklärt der Volkswirt. “Sie machen auch keine Anpassung, die berücksichtigt, dass wir Freihandel verfolgen. So kommen sie zu ihren Ergebnissen.”Die Drohungen aus Brüssel, den Briten nach einem EU-Austritt keinerlei Entgegenkommen zu zeigen, hält Minford für “ziemlich glaubhaft”. Deshalb betone er immer stärker die Freihandelsoption. “Entweder wollen sie dann einen Kompromiss, dann könnten wir uns sicher einigen, auch wenn es für uns gar nicht so gut wäre.” Wenn jemand etwa sagen würde, dass die ganzen Schutzmechanismen für die Autoindustrie nicht so einfach abgebaut werden sollten, weil sie in Europa eine hoch integrierte, ziemlich geschützte Industrie ist. “Bin ich mir sicher, dass wir einen Deal machen könnten? Ich würde darauf wetten. Wir würden das tun, weil die deutschen Autohersteller das wollen würden. Die würden nicht wollen, dass sie sich vom ersten Tag an mit um 20 % niedrigeren Preisen auseinandersetzen müssen.”Es werde solche Übereinkünfte geben. Aber Großbritannien brauche sie im Grunde nicht. “Politisch wäre es angebracht, schließlich wollen wir kein großes Zerwürfnis mit unseren Nachbarn. Aber wenn sie schlechte Nachbarn sein wollen, können wir den Verhandlungstisch auch einfach verlassen. Wir brauchen die Kooperation Brüssels nicht, wenn wir reinen Freihandel betreiben wollen.” Wenn die britische Autoindustrie dadurch in Schwierigkeiten geraten sollte, könne man ihr bei der Anpassung behilflich sein, den Bauern ebenso. “Ein Haufen harter Hunde”Die Auswirkungen eines Brexit auf die Londoner Finanzbranche hält Minford für begrenzt. Eine Menge Firmen habe Tochtergesellschaften in anderen EU-Ländern. Sie bräuchten das Passporting also nicht unbedingt, das Finanzdienstleistern ermöglicht, ihre Dienstleistungen grenzüberschreitend anzubieten. “Sollte das Passporting von Brüssel entzogen oder andere protektionistische Maßnahmen ergriffen werden, ließe mich das ziemlich kalt”, sagt Minford. “Das ist ein globaler Markt. Die EU wird den Weltmarktpreis für Clearing-Dienstleistungen nicht nennenswert beeinflussen können. Sie kann ihren Bürgern einen Zoll dafür auferlegen, in diesem Markt aktiv zu sein, was die Nachfrage nach Euro-Clearing dämpfen wird, wo auch immer das dann stattfindet.” Es werde dann eben weniger Euro-Clearing und mehr Renminbi-Clearing oder sonst etwas geben. Die City werde sich weiterentwickeln.Einige Bereiche des verarbeitenden Gewerbes stünden allerdings unter starkem Wettbewerbsdruck, falls der protektionistische Schutzwall wegfiele. “Die Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe ist von 35 % in den 1970ern auf mittlerweile 8 % zurückgegangen,” so Minford. “Rund ein Drittel davon ist Hightech. Wir sprechen also von vielleicht 5 %, denen die Anpassung schwerfallen würde.” Der ohnehin vorhandene Trend würde sich etwas beschleunigen. Aber die Wähler könnten ja intervenieren. Dann würde es eben hier und da ein bisschen Protektion geben. “Jeder denkt, der normale Bürger sei protektionistisch eingestellt”, meint er. “Und wenn man nach Ohio geht oder Pittsburgh, stimmt das wohl. Aber hier sieht es anders aus. Hier sind mehr als 90 % in der Dienstleistungsbranche tätig.”Großbritannien habe seinen Moment der Wahrheit vor 30 Jahren unter Margaret Thatcher gehabt. “Wir sind ein Haufen harter Hunde in diesem Land. Wer die Hitze nicht erträgt, soll aus der Küche verschwinden. Hier hat kaum jemand das Gefühl, dass Leute nicht auf ihren eigenen Beinen stehen sollten. Es gibt keine Sympathien dafür, nutzlose Branchen zu schützen.” Die Idee, dass man keine Weltmarktpreise nehmen könne, weil man Firmen am Leben erhalten müsse, sei verrückt.