IM INTERVIEW: KARL BRAUNER

"Wir können und wollen auf die USA nicht verzichten"

Der WTO-Vize über die weltweiten Handelskonflikte, die Blockade des Appellate Body, die Reform der WTO und den Umgang mit China

"Wir können und wollen auf die USA nicht verzichten"

– Herr Brauner, wir bewegen uns zurück in die protektionistischen Zeiten der 1930er. Wie besorgt sind Sie, dass sich das Welthandelssystem aktuell zurückbildet?Ich bin sehr besorgt. Noch vor kurzem war es herrschende Meinung, dass Zölle keine Rolle mehr spielten. Jetzt sind die Zölle wieder das Kampfmittel. Das ist ein großer Rückschritt. Aber es gibt doch auch Lichtblicke. Wir beschäftigen uns mit Zukunftsthemen wie E-Commerce.- 2018 war ein schlechtes Jahr für den freien Welthandel. Wie sehr haben die Zölle das Handelswachstum 2018 verlangsamt?Das Jahr war voller Unsicherheiten. Das ist immer schlecht für die Unternehmen und hemmt den Handel. Unsere Prognosen von September 2018 sagen für 2018 ein Welthandelswachstum von 3,9 % und für 2019 von 3,7 % voraus.- Auch 2019 steht der Handelskonflikt USA-China im Fokus. Rechnen Sie mit einem Deal zwischen Washington und Peking bis zur Frist am 1. März?Wenn die Parteien des Konfliktes zurückfinden zu einem auskömmlichen Miteinander, dann wird es einen Deal geben.- Und der EU-USA-Handelskonflikt? Wie sollte sich die EU im Handelskonflikt mit US-Präsident Donald Trump verhalten?Es steht mir nicht zu, hier Ratschläge zu geben. Als Vertreter des WTO-Sekretariats und Europäer hoffe ich natürlich, dass die EU nur WTO-konforme Maßnahmen ergreift, also auf rechtswidriges Verhalten mit einer Klage reagiert.- Aber dauern solche Klagen nicht viel zu lang?Nein, wenn man die großen Ausreißer wie Airbus und Boeing rausnimmt, bekommen Sie bei uns in 15 Monaten ein erstinstanzliches Urteil. Auch in der realen Welt bekamen Sie ein zweitinstanzliches Urteil in neun Monaten. In der theoretischen Welt müssten sie es bei uns sogar schon in 90 Tagen bekommen, aber das geht nicht, denn der Appellate Body (AB) ist ausgedünnt.- Befolgen die Staaten dann überhaupt die Urteile des Streitschlichtungsgremiums (Appellate Body)?Wir haben eine hohe Befolgungsrate in unserem Streitbeilegungssystem. In mehr als 95 % der Fälle wird in angemessener Zeit das Urteil umgesetzt. Es gibt auch hier Ausreißer, aber in der Regel wird befolgt.- Am 21. November haben die EU, China, Russland und andere Mitglieder ein Streitschlichtungsverfahren gegen die USA durchgesetzt. Der Appellate Body soll prüfen, ob die Zölle auf Stahl und Aluminium wie von den USA behauptet für die nationale Sicherheit nötig oder nur Schutzmaßnahmen für die heimische Wirtschaft waren. Wann rechnen Sie mit einem Urteil?Das kann ich nicht wirklich abschätzen, wir haben gegenwärtig einen Rückstau bei der Bearbeitung der Klagen. Es gibt Wartezeiten.- Aufgrund der Blockade der Richterstellen der USA, die den Appellate Body spätestens im Dezember handlungsunfähig machen?Bei Aluminium und Stahl sind wir ja noch in der ersten Instanz. Aber auch dort gibt es wegen der starken Inanspruchnahme Wartezeiten.- Der Konflikt zwischen der EU und den USA um den Appellate Body hat doch wohl tiefer liegende Gründe?Genau, die Europäer sehen den AB als Gericht, und sie sind es aufgrund des EuGH auch gewöhnt, dass das Gericht das Recht weiterentwickelt, auch zulasten der Souveränität der Mitgliedstaaten. Ganz anders die Amerikaner, sie sind bei keinem anderen internationalen Gericht dabei, nur bei uns. Sie sind der Meinung, es handelt sich beim AB nicht um ein Gericht, sondern um einen Streitbeilegungsmechanismus. Nach der Vorstellung der Amerikaner kann der AB das Recht nicht weiterentwickeln. Sie würden die Mitglieder des AB auch nicht als Richter bezeichnen.- Am 10. Dezember 2019 endet die Amtszeit zweier weiterer Richter, und der Appellate Body würde nur noch aus einem Richter bestehen. Wäre das Gericht dann handlungsunfähig?Ja, es sei denn, man fände eine Übergangsregelung, die wenigstens den Abschluss der Fälle erlaubte, für die schon eine mündliche Verhandlung stattgefunden hat.- Wie könnte man die Amerikaner von der Notwendigkeit eines funktionierenden Appellate Body überzeugen?Die Amerikaner gehören zu den Gründungsmitgliedern der WTO. Sie waren bei der Einrichtung der Berufungsinstanz eine treibende Kraft. Sie waren jahrelang erfolgreiche Nutzer des Systems und initiieren auch aktuell weitere Klagen bei der WTO. Im Januar haben die Mitgliedstaaten den neuseeländischen Botschafter als Vermittler bestimmt. Ich hoffe, es wird ihm gelingen, einen konstruktiven Dialog in Gang zu setzen und die Nachbesetzungsblockade zu überwinden.- Was passiert, wenn der Appellate Body endgültig handlungsunfähig ist?Dann droht die Macht an die Stelle des Rechts zu treten.- Wie gefährlich ist es denn, wenn sich die führende Weltwirtschaft aus dem multilateralen Welthandelssystem zurückzieht? Können China oder die EU dieses Führungsvakuum füllen?Für die USA war die Handelspolitik auch immer ein Element der Friedenssicherung. Die EU und China sind aktive Mitglieder der WTO und haben ihre eigenen Führungsqualitäten. Aber wir können und wollen auf die USA nicht verzichten.- Die Welt hat sich seit der Gründung der WTO 1995 stark verändert, die WTO hingegen so gut wie gar nicht. Wie muss die WTO reformiert werden, damit sie relevant bleibt?Die Europäer haben ein Reformpaket vorgelegt, und darüber wird intensiv diskutiert. Da gibt es drei Aspekte. Zwei der drei Aspekte beziehen sich auf den AB, die Regelungsfragen und die institutionellen Fragen. Die Regelungsfragen beziehen sich unter anderem darauf, in welcher Zeit der AB zu entscheiden hat, wie man damit umgeht, wenn während eines laufenden Verfahrens die Amtszeit eines Richters endet, und ob der AB nur mit Wirkung für den Fall entscheidet oder ob die Fälle Präzedenzwirkung haben. Im institutionellen Teil geht es um die Frage der Unabhängigkeit der Mitglieder der Berufungsinstanz. Die Richter sollen nur noch eine Amtszeit bekommen, die aber länger wird, damit man sie nicht unter Druck setzen kann. Die Europäer haben nach ihrem Verständnis jede Beschwerde der Amerikaner mit einem Lösungsvorschlag versehen, jetzt muss man abwarten, wie die Amerikaner reagieren.- Ein großes Problem des Welthandelssystems sind staatliche Subventionen. Wie wollen die Mitglieder dieses Problem angehen?Die Mitglieder müssen Subventionen eigentlich notifizieren. Das tun viele nicht, oder sie tun es mit viel zu großer Verzögerung. Es gibt Initiativen von einigen Mitgliedstaaten, die Nichtnotifizierung zu sanktionieren. Außerdem muss die Definition von Subventionen präzisiert werden.- Die EU subventioniert ihre Landwirtschaft ebenfalls, da greift das WTO-Recht auch nicht.Nicht alle Subventionen sind verboten. Manche sind nur im Volumen beschränkt.- Multilaterale Verhandlungen scheitern oft am Einstimmigkeitsprinzip. Sollte das Einstimmigkeitsprinzip abgeschafft werden?Nein, darauf kann man nicht verzichten, denn das gibt Legitimität. Aber es zeichnet sich ab, dass Gruppen von Mitgliedern für sich allein stehende Themen verhandeln und so auch zu einem Verhandlungsabschluss kommen können. Dann gibt es zwei Geschwindigkeiten und die Einladung an die anderen Mitglieder, mitzumachen, wenn sie so weit sind.- Der Bereich E-Commerce ist ein gutes Beispiel für solch eine plurilaterale Initiative. Wie laufen die Verhandlungen?In Davos wurde der Start der Verhandlungen bekannt gegeben. Die Hoffnungen der Teilnehmer sind, dass während der zwölften Ministerkonferenz im Juni 2020 in Astana ein Abkommen beschlossen werden kann.- Gleichzeitig treten immer mehr bilaterale Freihandelsabkommen in Kraft – wie am 1. Februar das Abkommen zwischen der EU und Japan. Auch mit Mercosur will die EU 2019 ein Freihandelsabkommen abschließen. Sind solche Abkommen nicht gefährlich für die WTO?Bilaterale Abkommen sind in der Zeit, in der sie verhandelt werden, Stolpersteine für multilaterale Verhandlungen, weil Länder oft exklusive Angebote für ihre bilateralen Verhandlungen brauchen und dann bei multilateralen Verhandlungen nichts mehr auf den Tisch legen können. Nachdem die bilateralen Abkommen aber in Kraft sind, bilden sie Bausteine, weil Länder in ihren bilateralen Abkommen oft Lobbyisten zu Hause haben überzeugen müssen und so das gleiche Thema auf multilateraler Ebene leichter bearbeitet werden kann.- Das WTO-Sekretariat umfasst rund 650 Mitarbeiter und ein Budget von 170 Mill. Euro. Zum Vergleich, beim IWF arbeiten 2 000 Mitarbeiter, und dieser hat ein Budget von 1,1 Mrd. Dollar. Muss das Sekretariat nicht besser ausgestattet werden, damit es seine Rolle als Verhandlungsleiter und Überwacher globaler Handelspolitik besser ausführen kann?Die Bereitschaft, der WTO mehr Geld zu geben, muss dieses Jahr bei den Haushaltsverhandlungen für 2020/2021 getestet werden. Es gibt auch die Forderung, dem Sekretariat eine stärkere Rolle zu geben. Wir sind als Sekretariat nicht das, was die Kommission in der EU ist. Wir haben keine Initiativrechte und dürfen Mitglieder nicht kritisieren. Wir schreiben nur faktische Berichte.- Das Sekretariat sollte die Mitglieder also kritisieren dürfen, wenn sie beispielsweise ihre Subventionen nicht notifizieren?Diejenigen, die eine Stärkung des Sekretariats fordern, haben das bisher wenig konkretisiert.- Kommen wir auf China zu sprechen. China verstößt in den Bereichen Marktzugang, geistiges Eigentum und Subventionen ganz klar gegen die WTO-Prinzipien der Nichtdiskriminierung und Inländergleichbehandlung.Die Themen waren in verschiedenen Ableitungen Gegenstand von Klagen. China nutzt das Streitbeilegungssystem als Kläger und ist häufig Beklagter. China befolgt die Entscheidungen des Streitbeilegungssystems. Das Problem wird darin gesehen, dass China einen anderen wirtschaftlichen Ansatz, ein anderes Wirtschaftsmodell hat. Man kann nicht eine Gleichheit der Behandlung in Deutschland und China erwarten. Man kann aber eine Gleichheit der Behandlung in China von deutschen und chinesischen Unternehmen erwarten.- Warum übernimmt die WTO nichts gegen die Regelverstöße Chinas?In einer von Mitgliedern gesteuerten Organisation kann das Thema nur durch die Mitglieder aufgegriffen werden. Das geschieht allenthalben in den Gremien der WTO und immer wieder durch Klagen. Der Generaldirektor kann keine Initiative ergreifen.- Also müsste Trump eigentlich nicht die WTO kritisieren, sondern die Mitglieder?Ja, die WTO ist nur der Zusammenschluss der Mitglieder. Es sind die Mitglieder, die das Sagen haben, und sie tragen ihre Konflikte in die WTO und fechten sie auch dort aus. So ist die WTO auch ein Spiegelbild der globalen Dissonanzen.- Viele Volkswirte rechnen mit einem baldigen Abschwung der chinesischen Wirtschaft. Welche Risiken würde solch ein Abschwung für den Rest der Welt haben?Für einige Länder ist China Wachstumstreiber. Eine Schwächung Chinas wird weltweit Spuren hinterlassen – auch in Deutschland. Ein großer Anteil des deutschen Wachstums generiert sich aus dem Geschäft mit China.- Was könnte man noch machen, um den Konflikt zwischen den Entwicklungs- und Industrieländern zu entschärfen?Mit dem Abkommen über Handelserleichterungen (Trade Facilitation) haben wir ein Modell, wie man erreichen kann, dass alle Vertragsstaaten die gleichen Verpflichtungen übernehmen und trotzdem unterschiedliche Leistungsfähigkeiten berücksichtigt werden. Dort gibt es drei Kategorien von Verpflichtungen: A (der Teil, den man sofort umsetzen kann), B (dafür braucht man mehr Zeit) und C (dafür braucht man mehr Zeit und Hilfe).- Wie würden Sie Kritikern wie Trump die Vorteile der WTO erklären?Wir bieten ein Regelwerk, das schafft Transparenz, Vorhersehbarkeit und Rechtssicherheit. Wir bieten mit dem Streitbeilegungsmechanismus eine zivilisierte Form der Auseinandersetzung. Wir bieten außerdem ein Forum für Verhandlungen, nicht nur in großen Runden, sondern auch in Komitees. Das Recht wird in den Komitees weiterverhandelt, und nationale Rechte werden so harmonisiert.- Sie als Deutscher bei der WTO, was halten Sie von der deutschen Handelspolitik und dem Leistungsbilanzüberschuss?Der Handelsbilanzüberschuss wird ja nicht aktiv durch die Politik gefördert. Wir sind einfach erfolgreich beim Export von Gütern und müssen beim Güterhandel das Geld verdienen, um die Dienstleistungen, etwa aus den USA, einzukaufen. Gleichzeitig ist es nicht vernünftig, dauerhaft einen hohen Leistungsbilanzüberschuss zu haben. Es kann ein Problem werden, wenn Länder unsere Forderungen nicht begleichen.- 2019 wird ein Schicksalsjahr für die WTO. Was ist Ihr Ausblick für dieses Jahr?2019 könnte ein schwieriges Jahr sein. Wenn alles super läuft, hätten wir im Juli eine Einigung bei der Reform des Appellate Body, und wir könnten die Probleme zum Jahresende gelöst haben. Die Spannungen in den Handelskonflikten werden rausgenommen,- Und das Negativszenario?Die Reformvorschläge werden sofort zerschossen, und wir haben im Dezember das letzte normal besetzte Gremium des AB, dann verfällt die Einrichtung. Die Fronten in den Handelskonflikten verschärfen sich, der Welthandel bricht ein, und es kommt zu einem Anstieg der Arbeitslosigkeit und vielen weiteren Problemen. Aber an sich ist der Mensch ein vernunftbegabtes Wesen, wenn die Vernunft sich durchsetzt, können wir noch einiges zustande bringen.—-Das Interview führte Julia Wacket.