DIE ALTERNDE GESELLSCHAFT - IM INTERVIEW: MARTIN WERDING

"Wir wissen nicht, wie wir uns das leisten können"

Der Rentenexperte plädiert für die Rente mit 69

"Wir wissen nicht, wie wir uns das leisten können"

Herr Professor Werding, in ein paar Jahren werden die ersten Arbeitnehmer aus der Babyboomer-Generation in Rente gehen. Sind Politik und Wirtschaft ausreichend auf den bevorstehenden demografischen Wandel vorbereitet?Die gute Arbeitsmarktentwicklung der vergangenen Jahre hat die Probleme überdeckt, die nun schnell sichtbar werden. Nach den Rentenreformen der Jahre 2002 bis 2007 waren wir schon besser vorbereitet. Seither hat die Politik das Rad teilweise wieder etwas zurückgedreht, zum Beispiel mit der “Rente mit 63”. Auch die Öffentlichkeit hat aus den Augen verloren, dass das Rentensystem unter den geltenden Regeln nach 2025 nicht mehr finanzierbar ist. Und das ist noch nicht alles. Kranken- und Pflegeversicherung sind vom demografischen Wandel ebenfalls betroffen. Das größte Problem ist aber wohl die Rentenversicherung. Die Bundesbank hat jüngst eine Anhebung des Renteneintrittsalters auf 69 Jahre ins Spiel gebracht. Löst das die Probleme?Es gibt keine einzelne Stellschraube, mit der sich die bevorstehende Verschiebung der Altersstruktur vollständig ausgleichen lässt. Längeres Arbeiten hilft aber, um Rentenniveau und Beitragssatz nicht zu stark anpassen zu müssen. Bis 2031 steigt die Regelaltersgrenze auf 67 Jahre, das ist geltendes Recht. Danach sollte man die Anhebung fortsetzen, wenn die Lebenserwartung weiter zunimmt. Irgendwann kann das Rentenalter dann auch bei 69 Jahren liegen, aber natürlich nicht jetzt und auch noch nicht 2030. Ich denke oft, das weiß doch eigentlich jeder – nur möchte es niemand aussprechen. Aber viele Menschen treten schon heute früher in den Ruhestand – freiwillig oder auch gezwungenermaßen. In einigen Branchen, werden in Personalabbaurunden teilweise schon Mitarbeiter mit Mitte 50 in den Vorruhestand geschickt.Die Zeiten zahlreicher Frühverrentungen sind vorbei. Das Rentensystem hat seit den 1990er Jahren weitgehend aufgehört, sich an den damit verbundenen Kosten zu beteiligen, etwa durch abschlagsfreie Renten ab 60. Und auch die Unternehmen haben umgesteuert, weil ihnen – anders als früher – sonst Arbeitskräfte fehlen. Auch wenn sich die momentane konjunkturelle Eintrübung verschärft, werden sie nur sehr begrenzt zu Vorruhestandsregelungen greifen. Die Beschäftigung Über-60-Jähriger ist in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren enorm gestiegen. Das zeigt, dass es möglich ist, länger zu arbeiten. Es ist eine der wenigen guten Nachrichten mit Blick auf die Bewältigung des demografischen Wandels. Schon heute herrscht in einigen Branchen Fachkräftemangel. Was bedeutet das für die Wirtschaftskraft Deutschlands? Kann Migration helfen und unter welchen Bedingungen sollte sie geschehen?In einer boomenden Wirtschaft gibt es oft Engpässe bei Arbeitskräften mit bestimmten Fachkenntnissen. Wenn daraus ein echter Mangel wird, der Wachstum und Beschäftigung behindert, verschärfen sich unsere Probleme mit der Demografie aber. Umgekehrt gilt nämlich: Wenn die gute Arbeitsmarktentwicklung weiter anhält, ist das für die Finanzierung von Renten und anderen Sozialsystemen enorm hilfreich. Es verringert die finanzielle Anspannung und damit den zukünftigen Reformbedarf innerhalb der Systeme. Auch zieht es weiter qualifizierte Migranten an, mit denen wir unsere demografische Situation ebenfalls verbessern können. Was ist also zu tun?Unser Bedarf an Zuwanderung ist größer, als sich auf Sicht im Rahmen der EU-weiten Arbeitnehmerfreizügigkeit mobilisieren lässt. Wir brauchen also Verfahren und Kriterien für Arbeitsmigration aus Nicht-EU-Staaten, zum Beispiel ein Punktesystem, Partnerschaftsabkommen mit solchen Ländern und eine Bundesagentur für Arbeit, die bei der Anwerbung qualifizierter Fachkräfte im Ausland aktiv mitwirkt. Was bedeutet die steigende Lebenserwartung in Deutschland für die Gesellschaft im Allgemeinen und für die Pflegeversicherung im Besonderen?Es ist paradox: Die steigende Lebenserwartung, die im Mittel auch mit einer längeren Phase gesunden Alterns verbunden ist, ist eine gute Nachricht. Wir wissen bisher nur nicht, wie wir uns das leisten können – jedenfalls nicht, wenn sich die mittlere Rentenlaufzeit von derzeit 20 Jahren immer weiter verlängert. Speziell auf die Pflegeversicherung kommt trotzdem eine steigende Beanspruchung zu. Die Zahl der Über-80-Jährigen steigt viel stärker als die der Personen im Rentenalter. Gleichzeitig herrscht in der Pflege heute schon Fachkräftemangel. Und wie sieht es mit der Digitalisierung aus? Sie wird heute noch von Menschen ausgeübte Tätigkeiten überflüssig machen. Hilft das bei der Bewältigung der demografischen Kurve oder schadet sie vielmehr, weil Computer nicht in Rentenkassen einzahlen?Wenn Computer menschliche Arbeit auf breiter Basis ablösen, wäre das auch für die Sozialfinanzen ein Riesenproblem. Bisher schaffen Automatisierung und Digitalisierung auf Dauer jedenfalls mehr Arbeitsplätze, als sie ersetzen. Der anhaltende Strukturwandel erzeugt natürlich Risiken für bestimmte Branchen und Berufe. Umso mehr sollte uns daran gelegen sein, die Arbeitsmarktentwicklung nicht ins Stottern geraten zu lassen. Sonst entstehen die neuen Jobs anderswo. Die Fragen stellte Archibald Preuschat.