Labour kann durchregieren
Labour kann in Großbritannien durchregieren
Vernichtende Niederlage für die britischen Konservativen bei den Unterhauswahlen, schottische Nationalisten verlieren alle Sitze in Westminster bis auf neun
hip London
Die britischen Konservativen haben bei den Parlamentswahlen eine vernichtende Niederlage eingefahren. Damit kommt nach 14 Jahren Tory-Herrschaft Labour wieder an die Macht. Die Mehrheit von Oppositionsführer Keir Starmer im Unterhaus wird nicht ganz so groß ausfallen wie in der Nachwahlbefragung nach Schließung der Wahllokale. Das Wahlsystem führt jedoch dazu, dass Labour bei den Mandaten immer noch einen enormen Vorsprung haben wird.
Labour erreichte einen Stimmenanteil von 33,7% nach Auszählung aller Wahlkreise bis auf zwei. Das ist dem „Spectator“ zufolge der niedrigste Wert für eine Mehrheitsregierung seit dem Jahr 1800. Tony Blair (Labour) kam 1997 auf 43,2%, Boris Johnson (Tories) 2019 auf 43,6%.
Einfache Mehrheit reicht
In den britischen Medien war viel von einer „Supermajority“ die Rede. Doch anders als in Deutschland braucht man in Großbritannien keine Zweidrittelmehrheit für eine Verfassungsänderung. Abgesehen davon, dass es keine schriftliche Verfassung gibt, können auch tiefgreifende Veränderungen vom House of Commons mit einer Mehrheit von einer Stimme beschlossen werden.
Starmer versprach, „für jeden einzelnen Menschen in diesem Land“ zu regieren. „Wahlsiege fallen nicht vom Himmel“, sagte er vor Parteimitgliedern. „Wir sind als veränderte Labour Party angetreten. Wir werden als veränderte Partei regieren.“ Er hatte die unter seinem Vorgänger nach links gerückte Partei wieder in der politischen Mitte positioniert.
„Ernüchterndes Urteil“
„Die Menschen in Großbritannien haben ein ernüchterndes Urteil gefällt“, sagte der scheidende Premierminister Rishi Sunak, der die Verantwortung für die Wahlniederlage seiner Partei übernahm und seinen Rücktritt als Parteivorsitzender ankündigte. Er entschuldigte sich zugleich bei den Kandidaten der Tories, die ihre Sitze verloren.
In Großbritannien werden nach einer Wahl schnell Konsequenzen gezogen. Der König lädt den Führer der siegreichen Partei dazu ein, die Regierung zu bilden. Sunak dürfte seinen Amtssitz in 10 Downing Street binnen 24 Stunden räumen.
Viele prominente Tories verlieren ihr Mandat
Während Sunak und sein Schatzkanzler Jeremy Hunt im neuen Parlament wieder vertreten sein werden, blieben zahlreiche prominente Konservative auf der Strecke. Unter ihnen befindet sich neben der ehemaligen Premierministerin Liz Truss auch Penny Mordaunt, die Sunak die Parteiführung streitig machen wollte. Der prominente Brexiteer Jacob Rees-Mogg und Verteidigungsminister Grant Shapps verloren ebenfalls ihre Unterhausmandate.
In der Labour-Hochburg Wales, wo die Tories 2019 unter der Führung von Boris Johnson 14 Mandate holten, gewannen sie in keinem einzigen Wahlkreis.
„Es ist ein Blutbad“
„Es ist ein Blutbad“, sagte der ehemalige EU-Handelskommissar Peter Mandelson. Es resultiere „aus dem Scheitern der konservativen Regierung auf so vielen Feldern der Politik und dem Ärger der Wähler darüber“. Auch die Rechtspartei Reform UK habe daran ihren Anteil.
Ein Blutbad war die Wahl auch für die schottischen Nationalisten. Die Scottish National Party verlor 38 ihrer Mandate in Westminster und wird nur noch mit neun Abgeordneten vertreten sein. Es ist das schlechteste Ergebnis der Partei seit 2010.
Farage zieht ins Unterhaus ein
Nigel Farage schaffte es im achten Anlauf ins Unterhaus. Der auch als „Mr. Brexit“ bekannte Führer der Rechtspartei Reform UK setzte sich im heruntergekommenen Seebad Clacton-on-Sea durch. Der Durchmarsch seiner UK Independence Party (Ukip) bei den Wahlen zum EU-Parlament 2014 hatte David Cameron dazu bewogen, eine Volksabstimmung über die Mitgliedschaft des Landes in der EU anzusetzen. Ukip war damals mit 27,5% stärkste Partei geworden.
„Das ist erst der Anfang“, sagte Chairman Richard Tice, der im Wahlkreis Boston & Skegness ins House of Commons gewählt wurde. Mit 14,3% der Stimmen wurde Reform UK drittstärkste Partei und erreichte vier Mandate. Die Grünen schicken mit lediglich 6,8% der Stimmen auch vier Abgeordnete nach Westminster.
Corbyn setzt sich in Islington durch
Der ehemalige Labour-Chef Jeremy Corbyn wird als Unabhängiger im Unterhaus sitzen. Sein Nachfolger hatte den Altlinken vor kurzem aus der Partei geworfen. In seinem Wahlkreis Islington North verfügt Corbyn jedoch über eine treue Anhängerschaft.
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