Wirtschaftswissenschaft mit Herz und Verstand

Von Stephan Lorz, Lindau Börsen-Zeitung, 23.8.2014 Die Wirtschaftswissenschaft steht seit der Finanzkrise unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Zum einen, weil sie nicht vor der verheerenden Entwicklung frühzeitig genug gewarnt hatte, zum anderen,...

Wirtschaftswissenschaft mit Herz und Verstand

Von Stephan Lorz, LindauDie Wirtschaftswissenschaft steht seit der Finanzkrise unter erhöhtem Rechtfertigungsdruck. Zum einen, weil sie nicht vor der verheerenden Entwicklung frühzeitig genug gewarnt hatte, zum anderen, weil ihre Methoden und Modelle zunehmend infrage gestellt werden. Sie erscheinen vielen als nicht realitätsnah genug. Bundeskanzlerin Angela Merkel hat denn auch zu Beginn der Nobelpreisträgertagung in Lindau deutliche Zweifel an der Beratungskompetenz der Ökonomen geäußert. Und die Globalisierungskritikerorganisation Attac wirft den Ökonomen eine verhängnisvolle politische Einseitigkeit vor. Ihnen sei ethisches Denken abhandengekommen, und ihre Ratschläge würden vor allem den Wohlhabenden und Vermögenden zugutekommen, weniger den ärmeren Schichten in der Bevölkerung, kritisierten sie am Rande der Tagung.Was die Fehleinschätzung etwa zur Finanzkrise angeht, so zeigt sich Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz durchaus selbstkritisch. “Es stimmt, dass alle unsere Modelle versagt haben”, sagte er in Lindau. Womöglich, so unken einige Teilnehmer, liegt ja auch ein Fluch auf der Zusammenkunft: Kurz nach dem Treffen im Jahr 2008 stürzte die Banken- und Finanzkrise fast die gesamte Weltwirtschaft ins Unglück; und nach dem Treffen 2011 drohte mit der Eurokrise der Zusammenbruch der gesamten Währungsunion. Nun nach dem Treffen 2014 – was ist jetzt zu erwarten? Nobelpreisträger Vernon L. Smith hatte vorsorglich bereits den Zeigefinger erhoben mit Verweis auf die Lage am US-Immobilienmarkt und auf die enormen Finanzvolumina, die durch die ultralockere Notenbankpolitik auf der Suche nach Anlagemöglichkeiten um den Globus vagabundieren.Auch im Hinblick auf den Vorwurf der politischen Einseitigkeit räumten einige der Nobelpreisträger wie Edmund S. Phelps ein, dass man bei den beobachteten Veränderungen in der Wirtschaft und bei den eigenen Reformvorschlägen wohl zu wenig die Auswirkungen auf die Arbeitnehmerschaft beachtet habe. Einige Preisträger wie Edward C. Prescott verteidigen aber gleichwohl weiterhin ihre Modelle, verweisen auf Anpassungen und darauf, dass die Treffgenauigkeit in vielen Fällen durchaus hoch sei. Andere Ökonomen setzen ebenfalls auf eine Vervollkommnung ihrer Instrumente etwa durch die Aufnahme von Erkenntnissen der Spieltheorie und der Forschungen über menschliches Verhalten. Das ziehe eine bessere Passgenauigkeit ihrer Modelle mit der Realität nach sich.Zudem gibt es auch zahlreiche Forschungsrichtungen, welche geradezu als Paradebeispiele für die Realitätsbezogenheit dienen können und zugleich Herz und Seele der Menschen ansprechen: Alvin E. Roth etwa kreierte einen Markt, damit mehr nierenkranke Menschen an ein Spenderorgan gelangen können als je zuvor. Durch ein komplexes Tauschringmodell erhalten auch Patienten ein Organ, für die keine passende Niere in der Verwandtschaft aufzufinden ist. Voraussetzung: In der Verwandtschaft wird eine Niere gespendet – allerdings für eine fremde Person. Stresstests reichen nichtUnd Robert C. Mertons Forschungen können mithelfen, künftige Finanzkrisen zu vermeiden, weil mit seinen Daten über globale Finanzverflechtungen Systemrisiken frühzeitiger als bisher erkannt werden. Er hat ein Modell der systemischen Risikoausbreitung unter Finanzinstituten und Staaten entwickelt, das sich nahezu kontinuierlich zu niedrigen Kosten aktualisieren lässt. Damit sind dynamische Veränderungen in solchen Verflechtungsstrukturen dann viel schneller zu erkennen als mit herkömmlichen Modellen oder mit den derzeit von der EZB durchgeführten Stresstests. Merton: “Selbst wenn 100 Stressszenarien getestet werden, reicht das angesichts von unendlich vielen möglichen Szenarien immer noch nicht aus, um sich gegenüber Systemrisiken abzusichern.” ——–Das Ansehen der Ökonomen hat gelitten. Mehr Realitätsbezogenheit ist jetzt gefragt.——-